EGMR verurteilt Griechenland: Schüsse waren „unverhältnismäßig“
Die Küstenwache schoss 2014 auf ein Boot, ein Migrant starb. Darüber urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
![Ein Schiff der griechischen Küstenwache auf hoher See. Ein Schiff der griechischen Küstenwache auf hoher See.](https://taz.de/picture/6770858/14/Kustenwache-Flucht-Mittelmeer-1.jpeg)
Konkret habe Griechenland gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg am Dienstag via X (ehemals Twitter) bekanntgab. Artikel 2 sieht vor, dass „das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich geschützt“ ist. Niemand darf absichtlich getötet werden, heißt es weiter in Artikel 2.
In dem vorliegenden Fall hatte die griechische Küstenwache am 22. September 2014 vor der Kleininsel Pserimos, die zwischen den größeren Inseln Kos und Kalymnos und nur wenige Seemeilen vor der türkischen Küste liegt, dreizehn Schüsse auf ein Flüchtlingsboot abgefeuert. Ein Flüchtling wurde dabei tödlich verletzt. Drei Überlebende, die Syrer Douaa Alkhatib, Nourredin Tello sowie Lana Tello, hatten sich an den EGMR gewandt, nachdem die griechische Justiz den Fall ins Archiv gestellt hatte.
Im Urteil kritisiert das Straßburger Gericht energisch das Vorgehen der griechischen Justiz. Die bei den Schüssen verletzten Flüchtlinge und Migranten seien während des Strafverfahrens niemals als Zeugen geladen worden, wie der EGMR feststellt. Obendrein habe es die Staatsanwaltschaft des griechischen Seegerichts versäumt, „wichtige Beweise wie den gerichtsmedizinischen Bericht über das Todesopfer sowie die eklatanten Mängel des vorgelegten ballistischen Berichts gründlich zu prüfen“.
Justiz hart gegen Fluchthelfer
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte zudem fest, dass die griechischen Behörden „keine klaren Regeln für den potenziell tödlichen Einsatz von Waffen bei Einsätzen der Küstenwache aufgestellt“ hatten. Die griechische Küstenwache habe dem EGMR-Urteil zufolge auf „unveröffentlichte, veraltete und unzureichende Einsatzregeln von 1992“ für den Einsatz von Waffen gegen Boote verwiesen. Der Einsatz der griechischen Küstenwache sei laut EGMR insgesamt „nicht ausreichend geplant und vorbereitet“ gewesen.
Die Einlassung der griechischen Küstenwächter, wonach man „nur auf den Motor des Schiffes gezielt“ habe, ließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht gelten. Die „extrem gefährlichen“ dreizehn Schüsse stellten eine „unverhältnismäßige Gewaltanwendung“ dar. Das habe die Bootsinsassen „einem Risiko für ihr Leben ausgesetzt“. Die Küstenwache habe das vorhersehen müssen.
Zum Zeitpunkt des Vorfalls nahe Pserimos regierte in Athen eine Koalition aus der konservativen Nea Dimokratia (ND) und der sozialdemokratischen Pasok unter Premierminister Antonis Samaras. Der ist bis heute ein einflussreicher Abgeordneter der heute allein regierenden ND. Zudem gilt der Ex-Premier als glühender Verfechter einer restriktiven Migrationspolitik und der sogenannten „Festung Europa“.
Die griechischen Behörden sind unterdessen auch wegen eines verheerenden Bootsunglücks vor der Hafenstadt Pylos ins Fadenkreuz geraten. Mitte Juni 2023 war ein heillos überfüllter Fischkutter vor der Küste der Halbinsel Peloponnes gesunken. Mutmaßlich ertranken mehr als 600 Menschen – vor allem Frauen, Kinder und Alte. Kurz davor hatte das Boot Kontakt mit der Küstenwache. Auch in der Causa Pylos arbeitet die griechische Justiz sehr langsam. Gegen Flüchtlingshelfer geht die griechische Justiz hingegen mit auffälliger Härte vor.
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