Dutzende Schweinegrippe-Tote: Ukraine unter Quarantäne
In der Ukraine hat die Schweinegrippe innerhalb kurzer Zeit mindestens 60 Menschenleben gefordert. Das Land befindet sich im Ausnahmezustand und bittet um Hilfe.
LEMBERG taz | Die Straßen in Lemberg sind ziemlich leer an diesem Abend. Wenige Autos, vereinzelte Passanten. Einige tragen Atemschutzmasken. Zahlreiche Restaurants haben geschlossen. Die Grippeepidemie hält die Westukraine fest im Griff.
In nur wenigen Tagen sind in den westlichen Regionen des Landes mehr als 180.000 Menschen erkrankt. Die Grippe hat bisher 67 Todesopfer gefordert, 10 davon in Lemberg, der einzigen Großstadt in der Westukraine mit über 700.000 Einwohnern. Alle Opfer sind an akuter Lungenentzündung gestorben.
"Ein Nachbar in unserem Haus ist tot. Vor ein paar Tagen war er noch ein kräftiger gesunder Mann." Der 20-jährigen Marjana ist offensichtlich mulmig zumute, als sie die Geschichte erzählt. Sie studiert Wirtschaft und Finanzen an der Uni in Lemberg, doch im Moment ist eine längere Pause angesagt. Die Regierung hat für drei Wochen sämtliche Kindergärten, Schulen und Hochschulen geschlossen.
Das Gesundheitsministerium hat bisher 22 Fälle der Schweinegrippe bestätigt. Doch inoffiziell geht man davon aus, dass sämtliche Todesfälle auf den H1N1-Virus zurückzuführen sind. Bei allen Opfern war der Verlauf der Krankheit sehr ähnlich - die tödlichen Veränderungen in den Lungen haben sich so schnell entwickelt, dass die Patienten auch auf der Intensivstation nicht mehr gerettet werden konnten.
In den Apotheken in Lemberg haben sich in den letzten Tagen große Schlangen gebildet. Die Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten konnte man überall in der Ukraine feststellen. "Das ist schon die fünfte Apotheke, und ich kann nirgendwo eine Atemschutzmaske finden", sagt eine ältere Lembergerin. Viele basteln deswegen ihre Atemschutzmasken selbst. Auch sämtliche Antivirenmedikamente sind vergriffen.
Experten der Regierung gehen davon aus, dass diese Woche die Epidemie Kiew erreichen könnte. Bisher wurde in neun westlichen Regionen des Landes eine Quarantäne verhängt. Die Regierung hat die Bevölkerung aufgefordert, von Reisen, die nicht unbedingt notwendig sind, abzusehen. Zusätzlich wurden sämtliche öffentlichen Veranstaltungen abgesagt, Kinos wurden geschlossen. Das Champions-League-Spiel zwischen Dynamo Kiew und Inter Mailand findet jedoch wie geplant statt - man erwägt lediglich, an alle Zuschauern die Atemschutzmasken zu verteilen.
Die Situation in der Ukraine wird noch komplizierter, da das Gesundheitswesen des Landes sich in einem äußerst schwierigen Zustand befindet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist es in den 90er-Jahren beinahe zusammengebrochen, die leichten Verbesserungen in den letzten Jahren dürfen über die allgemeine Misere nicht hinwegtäuschen. Die Versorgung der Krankenhäuser, insbesondere in den ländlichen Gegenden, ist völlig unzureichend, es fehlt nicht nur an teurem Diagnosegerät und Medikamenten, sondern auch an ganz einfachen Sachen wie Verbandmaterial. Das medizinische Personal wird chronisch unterbezahlt. Eine obligatorische Krankenversicherung gibt es nicht, offiziell bleibt das Gesundheitswesen für ukrainische Bürger gratis, in der Praxis muss man aber für alles bezahlen. Besonders teuer können dabei die Medikamente werden.
Mittlerweile versucht die Regierung zusammen mit den regionalen Behörden, die Versorgung zu organisieren. In der Nacht auf Montag ist eine Maschine aus der Schweiz mit 300.000 Tamiflu-Packungen gelandet, auch erste Hilfslieferungen aus Polen sind in den westlichen Regionen der Ukraine eingetroffen. Polnische Behörden sind besorgt und raten von einer Reise in die Ukraine ab, eine Schließung der Grenzen steht aber heute nicht zur Diskussion.
Die Epidemie der Schweinegrippe trifft das Land mitten im Wahlkampf. Präsident Juschtschenko flog am Wochenende nach Lemberg, um dort an einer Krisensitzung teilzunehmen. Er bat zudem die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Die Krankheit werde zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit, schrieb der Staatschef an die EU sowie die Regierungen benachbarter Länder. Die Ukraine sei alleine nicht in der Lage, das Problem zu lösen.
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