Judith Poppe über die drohenden Neuwahlen in Israel
: Von den Toten erwecken

Israel steuert auf Neuwahlen zu. Schon wieder. Auf dem Höhepunkt der Coronakrise hat nun auch der Koalitionspartner Benny Gantz dafür gestimmt. Er hatte keine andere Wahl. Denn eine Fortsetzung der Regierung würde das Elend nur verlängern. Gantz, der ehemalige Kopf der israelischen Armee, unerfahren in politischem Taktieren, war hilflos gegenüber den schmutzigen Bandagen, mit denen der Weltklassestratege und Zauberer Benjamin Netanjahu spielte. Einige sagen, dass die Regierungsbeteiligung von Gantz’Partei Blau-Weiß zumindest dafür gesorgt hat, dass Netanjahu wichtige Posten nicht mit seinen Verbündeten vom rechten Rand besetzen konnte.

Und man darf nicht vergessen: Neuwahlen wird es ohnehin geben. Kein Israeli hat jemals geglaubt, dass Netanjahu Gantz seinen Posten nach zwei Jahren – wie vereinbart – übergeben würde. Unter diesen Bedingungen eine derartig dysfunktionale Regierung, wie es die jetzige ist, weiterzuführen, kann man von Gantz nicht erwarten. Der Umgang mit der Corona­krise ist ein Desaster, wichtige Ämter des öffentlichen Dienstes wie das des Generalstaatsanwalts, des Generaldirektors des Justizministeriums und die Leitung der Haushaltsabteilung im Finanzministerium sind wegen Rangeleien zwischen den Regierungsparteien seit Monaten unbesetzt. Und noch immer gibt es keinen Haushalt für 2021.

Für Netanjahu ist das günstig: Umfragen zeigen, dass bei Neuwahlen eine Regierung unter jemand anderem als Netanjahu ausgesprochen unwahrscheinlich ist. Der Schaden, den die Regierungskoalition für das Mitte-links-Lager angerichtet hat, ist riesig. Gantz’Glaubwürdigkeit ist für die Wähler*innen seines blau-weißen Bündnisses sturzflugartig gesunken, die Arbeitspartei Avoda infolge seines Regierungsbeitritts in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Doch für das darniederliegende Mitte-links-Lager könnte nun die Zeit gekommen sein, wieder zu sich zu finden, die Arbeitspartei Avoda von den Toten zu erwecken und eine vernünftige Kooperation mit den arabischen Parteien aufzubauen.

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