Präsenz
ist
Future
Seit Montag läuft das dritte Online-Semester in Folge. Es heißt also weiterhin Homeoffice statt Hörsaal. Unter den Studierenden hält sich die Begeisterung darüber in Grenzen. Schwierigkeiten mit dem digitalen Format sind dabei natürlich nicht das einzige Problem
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Das Seminar vor dem Roten Rathaus: philosophischer Diskurs und Protest zugleich Foto: Tina Eichner
Von Oscar Fuchs
Es ist ein milder Frühlingstag Ende März, einer der Ersten des Jahres. Bessere Wetterbedingungen hätte es für das Seminar nicht geben können: Während sich das Studium weitestgehend in die digitale Sphäre verlagert hat, haben Studierende verschiedener Fachrichtungen selbst ein Seminar ins Leben gerufen. Eins unter freiem Himmel und direkt vor dem Roten Rathaus, Sitz des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD), zugleich Senator für Wissenschaft und Forschung.
Der Grund, warum Studierende heute hier sind, liegt nicht nur an deren Interesse an den philosophischen Redebeiträgen. Mit dem Open-Air-Seminar – organisiert von der Initiative #NichtNurOnline – fordern sie gleichzeitig eine Perspektive auf eine analoge Hochschullehre ein. Für die meisten Anwesenden ist es das erste Mal seit über einem Jahr, dass sie mit anderen Studierenden beisammensitzen.
Denn der Studienalltag sieht schon seit zwei Semestern ganz anders aus. Am Montag startete das Sommersemester bereits als das dritte digitale in Folge. Seit April 2020 bedeutet das für die meisten Studierenden: Tag für Tag verbringen sie vor dem Computer in Videokonferenzen, die mit der Zeit immer ermüdender werden.
Ein Jahr Studium unter Pandemiebedingungen ging vielen von ihnen an die Substanz. Einerseits, weil sich die finanzielle Situation durch verlorene Jobs oftmals verschärft hat. Andererseits, weil die digitale Lehre Studierende mit sozialen und psychischen Problemen konfrontiert.
Ein Studium verspricht normalerweise schließlich mehr als die reine Vermittlung von Wissen: Es bietet Raum für die Entfaltung der Persönlichkeit, es erlaubt jungen Menschen, in neue Städte und andere Länder zu gehen. Die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten verbindet sich mit einer sozialen Komponente: Studierende müssen sich in neuem Umfeld beweisen, lernen, vor Gruppen zu sprechen oder Kontakte für die Zukunft zu knüpfen.
Dass die Studienzeit vielen Menschen später als die schönste ihres Lebens in Erinnerung bleibt, liegt natürlich nicht nur an Networking und geschmiedeten Karriereplänen. Turbulente Partynächte, Beziehungen fürs Leben und nicht mehr ganz nüchterne Politikdebatten in WG-Küchen sind Teile des Studiums, die genauso schmerzlich vermisst werden. So wird das Ganze zu einer einsamen Erfahrung im digitalen Raum.
Diese Vereinzelung hat Folgen. Die wenigsten Studierenden beklagen sich jedoch darüber, nicht in die Hörsäle zu können. Ein Großteil von ihnen betrachtet es als selbstverständlich, sich für die Pandemiebekämpfung zurückzunehmen. Wenn man sich nur lange genug einschränken würde, könne man in ein paar Monaten schon wieder mehr Freiheiten genießen, so die Maxime.
Dieses Hin und Her
Ein Blick zurück auf ein Jahr Pandemie zeigt: Perspektiven auf Besserung gab es zunächst auch immer mal wieder. Das vergangene Wintersemester ab Oktober 2020 war zunächst „hybrid“ geplant. Bis auf einige Ausnahmen an medizinischen und künstlerischen Hochschulen musste es wegen der zweiten Coronawelle allerdings rein digital ablaufen. Im Verlauf des Semesters keimte dann die Hoffnung auf, dass im Sommer 2021 zumindest teilweise in Person studiert werden könnte. Die dritte Welle, eine langsamer als geplant verlaufende Impfkampagne und neue, schlecht einschätzbare Virusmutanten machten allen einen Strich durch die Rechnung.
Dieses Hin und Her zwischen Hoffnung, Lockdown und unvorhersehbaren Pandemieentwicklungen sorgt bei vielen Studierenden für ein Gefühl der Perspektivlosigkeit.
Und die Perspektiven, die sich gerade bieten, sehen eher mau aus: Das Sommersemester startete digital und soll bei verringertem Infektionsgeschehen vereinzelte Veranstaltungen in Präsenz erlauben, womöglich mit Testkonzepten. Dass sich da vor dem Wintersemester aber viel tun wird, erscheint angesichts der aktuellen Infektionslage zumindest unwahrscheinlich.
„Man merkt, dass sie häufig noch gar nicht richtig an der Uni angekommen sind“
Sebastian Pieper, Tutor für Erstsemester, Humboldt-UniversitätFür Studienanfänger:innen ist die Situation besonders schwierig. Nicht wenige sind gar nicht erst nach Berlin gezogen und studieren von ihrem Elternhaus aus. Diejenigen, die kamen, haben oftmals Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Wie der Alltag in der Uni sich anfühlt, kennen sie nur vom Hörensagen.
Online zu studieren ist für diese Generation neue Normalität – das gilt für alle, die ihr Studium seit April 2020 begonnen haben. Als Diana Leibniz (Name geändert) vergangenen Oktober anfing, in Potsdam Germanistik und Geschichte zu studieren, konnte sie zumindest einen Teil ihrer Kurse in Präsenz besuchen. Mit verschärfter Infektionslage wechselte ihr Studium ab Dezember dann komplett in den Onlinemodus.
Zu ihren bisherigen Erfahrungen sagt die 23-jährige Lehramtsstudentin: „Ich saß an vielen Tagen zehn Stunden vor dem PC, weil jeder Schritt digital abläuft. Das war nicht sehr abwechslungsreich und bereitete mir eine ganze Menge Stress. Einige, die mit mir anfingen, haben bereits das Handtuch geworfen, weil sie ihre Lebensqualität nicht nur durch Corona, sondern auch durch das Studium stark eingeschränkt sahen.“
Besonders vermisse sie den Austausch mit anderen Studierenden: „Ich habe selten Ausgleich und konnte bisher nicht viele Menschen kennenlernen. Wenn, dann waren es vor allem oberflächliche Kontakte, mit denen man sich zum Beispiel über die Zustände in den Seminaren aufregt. Dass man sich nicht auf einer persönlicheren Ebene kennenlernt, finde ich schon sehr schade.“
Die Lage der neuen Studierenden kann Sebastian Pieper, Masterstudent der Geschichte an der Humboldt-Universität, gut einschätzen. Als Tutor hilft er Erstsemestern bei dem Einstieg ins Studium: „Man merkt, dass sie häufig noch gar nicht richtig an der Uni angekommen sind. Sie kennen keine Kommilitonen und waren noch nie in der Bibliothek. Eine normale soziale Vernetzung hat noch gar nicht stattgefunden“, sagt Pieper. „Ich sehe darin eine Entfremdung vom sozialen Zusammenhang der Universität. Das ist eine Notlage, die den Studierenden selbst vielleicht gar nicht bewusst ist.“