: Drastischer Sex mit hässlichen Männern
Eine Anaïs Nin für Hartgesottene: Das teils biografische, teils fiktive Tagebuch der Wort-und-Ton-Künstlerin Lydia Lunch ist ein Manifest der Selbstentäußerung. Doch in ihren theatralischen Entwürfen kippen ihre Texte oft ins Lächerliche
„Männer, ein Mann, mein Vater, haben mich so verkorkst, dass ich wie ein Mann geworden bin“
(Lydia Lunch in „Paradoxie“)
„Ich hasse Gott ... Gott war der erste Bulle. Gott war der erste Schwanz.“
(In „Belastende Indizien“)
I am a humanist, not a feminist. There's a big difference.
(Im Interview 1997)
Der Untertitel zu ihrem Buch „Paradoxie“ lautet „Tagebuch eines Raubtiers“. Was einerseits impliziert, dass das Buch, zumindest in Ansätzen, biografisch ist. Und zum andern darauf vorgreift, was Lunch auf 200 Seiten beschreiben wird: ihren Hunger auf Menschen, auf Drogen, auf Sex an der Grenze zur Selbstaufgabe und zum Sadomasochismus, wie er überall stattfindet, aber selten beschrieben wird. Jedenfalls nicht von Frauen. Sie möge zwar Anaïs Nin, sagte Lunch 1998, aber sie sei ihr „nicht real genug. Nicht hart genug. Sie ist sehr träumerisch, sehr schön und erotisch, aber es geht nicht tief ans Eingemachte.“
Also geht Lydia Lunch ans Eingemachte. Und schreibt in „Belastende Indizien“, einer Sammlung von Geschichten, Monologen, Gedichten und Theaterstücken, auf einigen Seiten so oft „Arsch ficken“, dass die Zensoren die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden und die Feministinnen gleich mit. Beschreibt in dem Raubtier-Tagebuch „Paradoxie“ seitenweise drastisch Sex mit geilen, schmutzigen und hässlichen Männern, und wie viel Spaß es ihr macht, ihre maskuline Seite zu exponieren und andere Frauen zu quälen. In beiden Büchern klagt sie ihren Vater des Missbrauchs an. Und erklärt quasi damit ihr propagiertes, extremes Sexualverhalten, ihre Fixierungen. Das unterscheidet sie von allen anderen Autoren, in deren Geiste sie geschrieben haben mag (de Sade, Bukowski, Jean Genet, Henry Miller): Die müssen sich nicht entschuldigen. Natürlich, weil sie Männer sind. Vielleicht hat Lunch die Missbrauchsgeschichte auch erfunden, um ihren Charakter (sie schreibt immer in der Ich-Form) auszumalen. Jedenfalls kriegt sie das Bild glaubhaft hin, und sie ist konsequent.
Aber während „Paradoxie“ wie eine ausgekotzte, schockierende Parabel klingt von dem kleinen Mädchen, das den Dreck der Welt am eigenen Leib erfährt und alles Hassenswerte, auch den Hass selbst, genießen lernt, kippen ihre theatralischen Entwürfe in „Belastende Indizien“ oft ins Lächerliche. So absurd sind die ins „Supersexuelle“ gesteigerten Szenen einer Frau, die die sexuelle Unterwerfung sucht, in dem 1988 mit Emilio Cubeiro entstandenen Theaterstück „South of your border“, und so verquer sind sie mit Geheimdienst-Verschwörungstheorien verknüpft, dass sie eher für Belustigung als für einen provokanten Diskurs sorgen dürften. Obwohl es ihr, die sich selbst nie als „Performerin“ oder „Entertainerin“, sondern als Autorin begriff, um ebendiesen Diskurs eigentlich zu gehen scheint.
Lunch ist so etwas wie eine Multimediakünstlerin. Als 17-Jährige, gerade von zu Hause ausgerissen, spielte sie 1976 in New Yorker Underground-Clubs in Punkbands Gitarre, schrie als deren Frontfrau mit ihrer durchdringenden Stimme dunkle Anti-Song-Texte heraus. Sie arbeitete mit Nick Cave, Jim Foetus und Mitgliedern von Sonic Youth zusammen und wirkte in mehreren als Pornografie eingeschätzten (und darum in den USA X-rated) Filmen mit. Sie fotografiert, tritt als Performancekünstlerin und Autorin in „Spoken Word Poetry“-Lesungen auf, meist in Schwarz gekleidet, die Augen schwarz umrahmt.
Es geht in all ihren Projekten, in all ihren Kunstformen um sie. Sie ist die „erste wütende Frau in einem Baby Doll“ (so der Autor Ross Holloway). Und die erste, die sowohl die Perspektive des Täters als auch die des Opfers einnimmt. Gleichzeitig. Das macht ihre in kurzen, atemlosen Sätzen herausgehusteten Geschichten in „Paradoxie“ besonders beängstigend: „Mit roher, vom Alkohol verdoppelter Kraft hämmerte er uns zum gemeinsamen Orgasmus und warf mich, nachdem er gekommen war, auf das gemeinsame freie Bett. Drohte mir beim Hinausgehen mit dem Finger, keine Scheiße mit ihr anzustellen. Sie lag immer noch von Würgkrämpfen geschüttelt auf dem anderen Bett. Ich log, sagte, ich würde sie ausschlafen lassen. Warf ihm, als er die Tür zumachte, ein oder zwei Gläser hinterher. Das typische Arschloch, das es nicht verkraftete, wenn sein Programm von jemand anderem durchgezogen wird.“
In dem 1997 in den USA erschienenem Buch und auch in den Tiraden, Monologen und Stücken in „Belastende Indizien“ erinnert Lunch in ihrer Selbst- und Sexfixiertheit, ihrer notorischen Sucht nach Drogen und Sex manchmal an Klaus Kinskis Pseudobiografie „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“: Ein Künstler, der auf der Suche nach Erlösung und wahrer, reiner Kunst einen Weg geht, der mit nackten Körpern gepflastert ist. Und alle sollen wissen, wie schwer dieser Weg ist. So schwankt man zwischen Neugier und Ekel, zwischen Unglauben, Schock, Scham und Interesse. Und: Man ist fasziniert.
JENNI ZYLKA
Lydia Lunch: „Belastende Indizien“. 212 Seiten, 30 DM; „Paradoxie“. 211 Seiten, 30 DM. Beide Miranda Verlag, Bremen 2000. Aus dem Amerikanischen von Gunter Blank.
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