Querspalte:
Dracula
In der Gruft glimmt Dämmerlicht. Zwei gewaltige Sarkophage beherrschen die Szenerie. Im ersten, den Jonathan Harker begutachtet, liegt der Graf selbst, noch Blut in den Mundwinkeln von den Mordzügen der letzten Nacht. Im zweiten ruht die Vampirbraut im weißen Abendkleid. Es muss sein. Er setzt den Holzpflock ans Herz, nimmt den schweren Hammer, haut ein-, zwei-, dreimal zu, Blut spritzt auf, die Vampirin schreit, Schnitt: Dracula schlägt die Augen auf. Jonathan beobachtet derweil entsetzt, wie sich die Gepfählte innerhalb von Sekunden in eine alte, verschrumpelte Frau verwandelt. Durch die dunklen Fensterscheiben sehen wir, wie die Sonne untergeht . . .
Endlich fasst sich Jonathan. Er greift nach Hammer und Pflock und wendet sich dem Sarg Draculas zu, doch der ist inzwischen leer. Da! Im Eingang der Gruft: Dracula im Mondlicht, und seine Fangzähne triefen. Junge, Junge, hab ich mich damals als Kind gefürchtet. Wenn die Eltern nicht zu Hause waren, und ich allein mit dem älteren Bruder im düsteren Wohnzimmer saß. Vor dem Schlafengehen musste in den Schrank und unters Bett geguckt werden. Und ich war fest davon überzeugt, dass dort etwas hätte lauern können. Mein Bruder angeblich auch.
Vor ein paar Tagen habe ich mal wieder den Dracula mit Christopher Lee gesehen und mich gefragt, warum Jonathan nicht zuerst den Chef gepfählt hat. Er wusste doch, dass die Sonne bald untergeht. Mit der Frau hätte er hinterher eventuell noch fertig werden können. Na ja, der Film wäre dann zu Ende gewesen; nach zwanzig Minuten. Es kann nicht immer alles logisch zugehen. Man könnte nun sagen, dass es der Spannung geschuldet ist, zuerst die kleinen Fische zu jagen. Aber dies auch ins Allgemein-Politische zu übertragen, ist vielleicht doch etwas weit hergeholt. Oder? Andreas Scheffler
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