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Dossier Flughafen IstanbulDer Blick des Ingenieurs

Ökçün Gülmez gestaltete das Megaprojekt maßgeblich mit. Danach kehrte er der Türkei den Rücken – und ließ einen gigantischen Flughafen zurück.

Hinter der Vision des Flughafens steckt mehr als der Ehrgeiz des Präsidenten, denkt Gülmez Foto: Şener Yılmaz Aslan

Beim Bau des neuen Istanbuler Flughafens gehörte der Ingenieur Ökçün Gülmez zum Kreis der Entscheider. In der Hierarchie des Flughafenbetreibers IGA gab es zwischen dem CEO und Ingenieur Gülmez nur eine einzige Position. „Wenn man einmal auf dem Flughafen Istanbul gearbeitet hat, kommt einem das Leben danach wie in Zeitlupe vor“, sagt er. Das Arbeitstempo auf der Baustelle und in den Planungsbüros sei enorm gewesen. Als Koordinationsdirektor der Designabteilung beim Flughafen-Konsortium IGA war er für technische Fragen und die Gestaltung zuständig. Wer das Megaprojekt verstehen will, muss mit Ökçün Gülmez sprechen.

Dreieinhalb Jahre hat Gülmez für den neuen Flughafen gearbeitet. Seinen Auftrag hat er damit erfüllt. Im Juni 2018, sechs Tage nachdem Recep Tayyip Erdoğan die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte und das Präsidialsystem in der Türkei eingeführt wurde, wanderte er nach Deutschland aus. Zunächst arbeitete er in einer Baufirma in Berlin, dann zog er nach Baden-Baden. Dort nahm er sich der Restaurierung des Hôtel de l’Europe an, das einst vom russischen Hochadel und russischen Literaten wie Dostojewski frequentiert wurde. Seine erste Antwort auf die Frage, warum er nach Deutschland gekommen ist, fällt knapp aus: „säkulare Migration“.

Während er in seinem Wagen an Weinbergen vorbei in die Stuttgarter Innenstadt fährt, spricht Gülmez über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, seinen alten Job als Ingenieur und seine Entscheidung, nach Deutschland zu ziehen. Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, wie unterschiedlich die Lebensqualität in beiden Ländern sei. In Istanbul könne man inzwischen nicht mehr leben, findet er. Nach Deutschland sei er in erster Linie gezogen, um seinen beiden Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Er vermisst das Istanbul seiner Kindheit, als die Stadt noch längst nicht so überfüllt war wie heute. Er erinnert sich gerne zurück an seine Jugend in der Metropole, an die neunziger Jahre, die Kneipen im Viertel Asmalımescit in Beyoğlu.

Dabei sind es Megaprojekte wie der neue Flughafen, die Istanbul noch größer und noch weniger lebenswert machen – so ein Einwand der Kritiker des Flughafens. „Ich habe auch Kritik einstecken müssen. Sogar einige meiner Freunde haben mich gefragt, warum ich dort arbeite“, sagt Gülmez. Für seine Karriere war es ein wichtiger Schritt, für das Projekt zu arbeiten. „Viele, denen ich erzähle, dass ich dort gearbeitet habe, zeigen großen Respekt“, sagt er. Als Held sehe er sich aber nicht.

„Der Präsident weiß Bescheid“

Am 2. Mai 2015 fing Ökçün Gülmez an, bei IGA zu arbeiten. Zwei Monate später wurde das Fundament für den Flughafen gegossen. 95 Prozent seiner Arbeitszeit verbrachte Gülmez in einem Großraumbüro mit 120 Kollegen. Er arbeitete zehn Stunden am Tag, vier Stunden vergingen täglich auf dem Arbeits- und Heimweg. Ein Arbeitstag sei ihm vorgekommen wie drei. Einige seiner Kollegen kannte er aus früheren Projekten, das Team bestand aus internationalen Fachleuten, den besten weltweit, erzählt er.

Das IGA-Konsortium setzt sich aus den fünf Firmen zusammen, die während der Regierungszeit der AKP die meisten öffentlichen Aufträge erhalten haben – Gesamtwert der Zuschläge: 125 Milliarden Euro. Diese Nähe der Firmen zur Regierung führte gemeinsam mit der gesellschaftlichen Polarisierung in der Türkei dazu, dass es auch zum Flughafenprojekt in der öffentlichen Debatte nur zwei Meinungen gab. Einig waren sich alle nur in einem: Flughafen = Erdoğan.

Gülmez ist es unangenehm, dass das Projekt – das schließlich auch sein Projekt ist – als „Erdoğan-Projekt“ gilt. Er findet das auch gegenüber den zehntausenden Arbeitern, die den Flughafen letztendlich erbaut haben, unfair. Aber er denkt auch, dass an dieser Sichtweise etwas Wahres dran ist. Zum Beispiel seien Angestellte wegen politischer Äußerungen in den sozialen Medien gekündigt worden. Bevor er seinen Job angefangen hat, habe er seine Social Media-Beiträge aus der Zeit der Gezi-Proteste 2013 gelöscht.

Weil das Projekt dermaßen politisch aufgeladen wurde, hatten beim Flughafenbau selbst alltägliche Angelegenheiten schnell eine politische Dimension. „Jeder wollte irgendetwas von einem“, erinnert sich Gülmez und zählt die vielen Forderungen auf, mit denen er Tag für Tag konfrontiert wurde. Höhere Polizeibeamte verlangten, dass ihre Dienststelle in der Nähe einer Teestube liegt, die Hunde des Drogendezernats mussten getrennt von den Hunden der Sicherheitsbeamten untergebracht werden, es gab spezielle Forderungen bezüglich des Gasthauses, das für den Präsidenten gebaut wurde.

Während Gülmez erzählt, wird die Liste immer länger. „Jeder versuchte, seine Anliegen mit Verweis auf den Staatspräsidenten zu rechtfertigen. Man hätte die Dinge professioneller angehen müssen, eigentlich hätte sich niemand einmischen dürfen.“ Wenn jemand mit einem besonders umständlichen Anliegen zu ihm kam, dann habe aber auch er wie die anderen auf den Präsidenten verwiesen, sagt Gülmez und lacht: „Der Staatspräsident weiß Bescheid, er ist dagegen.“

Der Preis für den Flughafen

Trotzdem glaubt Ökçün Gülmez, dass hinter der Vision des weltweit größten Flughafens mehr steckt als nur der Ehrgeiz des Präsidenten. Nämlich eine einfache ökonomische Rechnung: Das Finanzzentrum der Welt verschiebe sich Richtung Osten. Um zu verdeutlichen, was er meint, zeichnet er in einem Café in der Stuttgarter Innenstadt die sich verändernden globalen Kapitalströme auf ein Blatt Papier. Den Stift setzt er bei London an; der Pfeil, den er zieht, führt in den Nahen Osten. Damit verlagerten sich auch Schwerpunkte des Luftverkehrs gen Osten. Mit dieser Einschätzung ist er nicht allein.

Das IGA-Konsortium hat für ihr Bauprojekt bei unabhängigen Denkfabriken Analysen über die ökonomischen Folgen des Flughafens in Auftrag gegeben, dabei auch mit ausländischen Beratungsfirmen wie Mott MacDonald zusammengearbeitet.

Für den neuen Flughafen sei die halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines der Motor des Wachstums. „Auf dem Atatürk-Flughafen finden die Flugzeuge keinen Platz mehr zum Starten und Landen. Ende 2017 hat der Flughafen acht neue Fluggastbrücken gekauft. Warum investiert ein Flughafen, der in einem Jahr schließen wird? Weil es Bedarf gibt“, erklärt Gülmez.

Doch der neue Flughafen hat seinen Preis: Offizielle Zahlen zu den Todesfällen von Arbeitern auf der Baustelle stammen aus einem Bericht vom Januar, den die damalige Vorsitzende der staatlichen Flughafen-Betriebsbehörde, Funda Ocak, der Verfassungskommission vorgelegt hat. Demnach sind bis heute 55 Arbeiter auf der Flughafenbaustelle ums Leben gekommen. Im Februar trat Funda Ocak ohne Begründung von ihrem Amt zurück.

Es gab Medienberichte darüber, dass auf dem Istanbuler Flughafen bis zu 400 Arbeiter gestorben seien. Immer wieder wurde behauptet, die Todesfälle seien durch die Zahlung von Schweigegeld an die Angehörigen vertuscht worden. Diese Anschuldigungen konnten bislang nicht bewiesen werden.

„Ein Toter je 100.000 Quadratmeter“

Nicht erst seit dem Grubenunglück von Soma in der Westtürkei im Jahr 2014, bei dem nach offiziellen Angaben 301 Personen ums Leben kamen, haben unsichere Arbeitsbedingungen und tödliche Arbeitsunfälle einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis der Türkei. Immer wieder kommt es auf Großbaustellen zu tödlichen Arbeitsunfällen. Bei einem Brand im Jahr 2012 wurden auf der Baustelle des Einkaufszentrums Marmara Park in Istanbul, das mit deutschem Kapital gebaut wurde, elf Arbeiter getötet. Es ist ein seltsamer Zufall, dass Gülmez auch für dieses Projekt gearbeitet hat.

Gülmez bedauert den Tod der Arbeiter. In seiner Abteilung hätten sie jede Woche zweieinhalb Stunden über Arbeitssicherheit diskutiert. Trotzdem hält er tödliche Unfälle bei einem Megaprojekt dieser Größenordnung für unvermeidbar. Es gebe eine weltweite Statistik darüber, wie viele Todesfälle auf Baustellen zu erwarten sind: „ein Toter je 100.000 Quadratmeter.“

Er verweist auf Daten der Internationalen Organisation für Arbeit, nach denen es auf der Baustelle des neuen Flughafens mit einer Fläche von 3,5 Millionen Quadratmetern 35 tödliche Arbeitsunfälle hätte geben müssen. Nach dieser Rechnung seien 55 Todesfälle mehr als normal, sagt er.

Warum sind so viele Menschen gestorben? Gülmez sagt, ein Grund dafür sei die extrem kurze Zeit, in der der Flughafen gebaut wurde. Der neue Istanbuler Flughafen wurde am 29. Oktober 2018, nur 42 Monate nach Baubeginn eröffnet – zumindest teilweise. Die Diskussion darüber, ob es sich dabei nun um eine echte Eröffnung handelt oder nicht, hält Gülmez für überflüssig. „Wenn das erste Flugzeug abhebt, ist der Flughafen eröffnet.“

Ein Projekt außer Kontrolle

Doch anders als oft behauptet wird, glaubt Gülmez nicht, dass der Flughafen so schnell gebaut werden musste, weil es politischen Druck gab. Der wahre Grund für die Geschwindigkeit sei die Tatsache, dass Flughäfen eine bestimmte Lebensdauer hätten. Wenn ein Flughafen später als geplant eröffne, könne er unter Umständen den kalkulierten und erforderlichen Passagierzahlen nicht mehr nachkommen. Ökonomisch gesehen wäre ein solcher Flughafen dann ein Verlustgeschäft.

Den Angaben von Turkish Airlines zufolge sind seit der Eröffnung des neuen Istanbuler Flughafens Ende Oktober nur 400.000 Passagiere von dort geflogen. Dabei war für das Jahr 2019 geplant, dass rund 90 Millionen Fluggäste von dem Flughafen starten sollen. Bis 2028 sollen es jährlich 200 Millionen Passagiere werden. Ist der Istanbuler Flughafen etwa auch eine „Totgeburt“? „Nein“, sagt Gülmez. Der Flughafen Berlin Brandenburg (BER), der nach 13 Jahren Bauarbeiten immer noch nicht in Betrieb ist, werde dagegen eine „Totgeburt“ sein.

Wie konnte der Istanbuler Flughafen, der fünfmal so groß ist wie der BER, in nur einem Drittel der Zeit gebaut werden? Gülmez' Antwort auf diese Frage ist zugleich eine der Ursachen, die er für die tödlichen Arbeitsunfälle nennt: das unkontrollierte System der Subunternehmen. Es sei nicht gelungen, dieser undurchsichtigen Organisation Herr zu werden: „Das Schlimmste ist das Subunternehmersystem. Es ist so schwer, die alle zu überprüfen. Das macht die Situation unkontrollierbar.“

Die Konkurrenz der Subunternehmen drückt den Preis

Dabei war es nicht damit getan, dass das IGA-Konsortium einem Subunternehmen einen Auftrag weiterreichte. Gülmez beschreibt das System folgendermaßen: „Eine Firma erhält den Auftrag für den Fenstereinbau für 1.000 Lira, eine zweite Firma übernimmt ihn für 900, eine weitere für 800, wieder eine weitere für 700 und so weiter, bis schließlich die fünfte Firma den Auftrag für den halben Preis erledigt. Am Ende setzt ein zehnköpfiger Familienbetrieb die Fenster ein. Es gab 800 bis 900 solcher Firmen.“

Das führt dazu, dass letztendlich ungelernte Arbeiter für einen Billiglohn arbeiten. Gülmez glaubt, dass das Problem nur gelöst werden kann, wenn man das Subunternehmersystem an eine staatliche Institution bindet. Dass Hunderte von Subunternehmen miteinander konkurrieren, den Preis somit drücken, sei schließlich ein Grund für die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne der Bauarbeiter. „So etwas gibt es hier in Deutschland nicht“, sagt Gülmez. „Würden Sie einen 250.000-Euro-Job für 200.000 Euro erledigen?“ Kein Mensch würde dazu ja sagen, das sei der größte Unterschied zwischen Deutschland und der Türkei, sagt er.

Unkontrolliertes Subunternehmertum bedeutet Chaos. Gülmez gibt zu, dass es Momente gab, in denen auch er von der Größe der Baustelle überwältigt war. In der Vergangenheit hat Gülmez für ein Einkaufszentrum in Litauen und für den Flughafen in der turkmenischen Hauptstadt Aşkabat gearbeitet. Projekte, die sich für Gülmez nicht mit dem Flughafen Istanbul vergleichen lassen. Bauprojekte dieser Größenordnung entwickelten mit der Zeit eine eigene Dynamik und einige Faktoren gerieten dann außer Kontrolle, sagt Gülmez. Als ob der Fortschritt nun einmal bestimmte Opfer fordere.

Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş

Dieser Text ist Teil des multimedialen Dossiers zum Flughafen Istanbul. Mit Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft. Lesen Sie mehr unter taz.de/flughafen-istanbul

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