piwik no script img

Dokumentation„Sie haben Ihr Ansehen mißbraucht“

■ Offener Brief an Günter Grass von Slobodan Rakitic, Vorsitzender des Schriftstellerverbands Serbiens: „Die Kinder der Albaner leben von der Sozialhilfe des serbischen Staates“

Sehr geehrter Herr Grass,

mit Ihrem Auftritt in der Stadtbibliothek in Leipzig am 26. März im Rahmen der Buchmesse und Ihrer Erklärung, es sei höchste Zeit für einen Nato-Einsatz in Serbien, beeilten Sie sich, sich den Herrschaften Clinton, Chirac, Solana, Cook, Frau Albright und den Nato-Generälen anzuschließen, beziehungsweise dem politischen und militärischen Establishment der größten Länder des Westens. Sie haben alle Ihre Bevollmächtigungen überschritten, ebenso wie Sie nun Ihr Ansehen, die deutsche Sprache und Kultur mißbraucht haben. Ihre Werke und Ihre literarischen Helden haben sich weiser als Sie selbst gezeigt, und Ihre Schuld wegen Unterstützung der Bombardierung ist größer als die Schuld der Auftraggeber.

Adolf Hitler rechtfertigte seine Angriffe auf die Tschechoslowakei und Polen mit der Begründung, er wolle den Frieden und die deutschen Interessen bewahren, ebenso wie der USA-Präsident die Nato-Aggression auf Serbien und Montenegro heute erklärt. Sie sprechen über zehn Jahre blutiger Auseinandersetzungen auf dem Balkan, wozu – wie Sie selbst sagen – Ihr Land durch die vorzeitige Anerkennung von Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina am meisten beigetragen hat, und gerade im Lauf dieser zehn Jahre hat das serbische Volk eine globale Tragödie erlebt, so wie sie anderen Völkern nicht einmal in tausend Jahren geschieht (...)

(...) Die gedankliche Voraussetzung aller Ihrer vorgetragenen Standpunkte ist das angebliche Leiden einer großen Anzahl albanischer Zivilisten in Kosovo und Metohija. Ohne diese Voraussetzung wäre es Ihnen selbst klar, daß Sie einen Aufruf zum Völkermord machen. Jetzt decken Sie sich hinter dem politischen Marketing einer „humanitären Katastrophe“, welche es in Kosovo und Metohija vor der Nato-Bombardierung nicht gegeben hat, von welcher alle Bürger in Kosovo und Metohija heute betroffen werden, ungeachtet ihrer Nationalität. (...)

Über eine halbe Million autochtoner Serben wurden in den Kriegsjahren 1991 bis 1995 planmäßig und organisiert aus den westlichen Teilen des ehemaligen Jugoslawien vertrieben – aus Dalmatien, Kordun, Lika, Banija, Slawonien, der Herzegowina und Westbosnien (...) und zwar aufgrund der Anklage, sie seien für die „ethnische Reinigung“ verantwortlich, welche sie nicht durchgeführt haben. Vor den Augen der ganzen Welt wurden sie selbst Opfer einer solchen ethnischen Reinigung und zwar als Folge der militärischen Operationen „Blitz“ und „Sturm“, welche seitens der kroatischen Armee mit Luftwaffenunterstützung der Nato und logistischer Hilfe der USA durchgeführt wurden.

Die Albaner in Kosovo und Metohija haben in den letzten zwei Jahrzehnten die höchste Geburtsrate in der Welt erreicht und bewahrt (...) und Rechte genossen, wie sie keine nationale Minderheit in der Welt hatte. (...)

Kosovo und Metohija sind die Wiege des serbischen Volkes, in der kommunistischen Zeit wurde aber in dieser Wiege die albanische separatistische Bevölkerung gepflegt. Josip Broz Tito stand jedem zehnten neugeborenen albanischen Kind Pate, während für die Serben das Verbot einer Rückkehr und Ansiedlung in Kosovo und Metohija in Kraft war. Schließen Sie sich denjenigen an, die die Polygamie der Albaner bewundern, deren Frauen gezwungen werden, zahlreiche Kinder zu gebären, welche alle von der Sozialhilfe des serbischen Staates leben, während der Profit vom Rauschgifthandel für die Aufrüstung gespendet wird? (...)

Als Schriftsteller eines europäischen Volkes glauben wir, daß Sie sich selbst disqualifiziert haben, indem sie behaupten, Europa sei unfähig, ohne Amerika auf diesem Kontinent etwas zu schaffen, was im Einklang mit der Demokratie und den Menschenrechten steht.

In Belgrad, am 28. März 1999

Slobodan Rakitic, Vorsitzender des Schriftstellerverbands Serbiens

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen