piwik no script img

DokumentationZwei Antworten

■ Maßvolles „Schmusen mit Stoiber“?

„Sie sägen an dem Stuhl, auf dem sie selber sitzen“, hatte Bürgermeister Henning Scherf vergangene Woche dem Grünen-Politiker Hermann Kuhn entgegengeschleudert. Kuhn hatte sich ausdrücklich auf eine Erklärung von Willi Görlach, Vorsitzender der SPD-Europa-Abgeordneten, bezogen, die wir nun dokumentieren: „Die Drohung der Ministerpräsidenten, die anstehende Reform der Europäischen Union im Bundesrat nicht ratifizieren zu wollen, sollten nicht bestimmte Bedingungen der Länder akzeptiert werden, ist kontraproduktiv. Die SPD-Abgeordneten sind durchaus dafür, die Rolle der Regionen zu stärken (...). Aber die zurzeit aggressiv gegen die EU gerichtete Diskussion der Ministerpräsidenten ist lediglich eine defensive Schutzstrategie aus der Motz- ecke heraus und damit schädlich für die EU selbst.

Die Ministerpräsidenten verschweigen zudem, dass durch ihre föderalen und nationalen Egoismen die Gefahr besteht, dass Teile des Binnenmarktes wieder ausgehebelt werden. (...) Natürlich müssen bewährte deutsche Strukturen wie Sparkassen, Wohlfahrtsverbände und öffentlich-rechtlicher Rundfunk vor neoliberalen Wettbewerbs-Ayatollahs sicher sein. Letztere gibt es allerdings überall, auch bei uns zu Hause. Die Sicherung erfolgreicher politischer Strukturen muss für alle Mitgliedstaaten gelten. Eine vertragliche Absicherung nur deutscher Spezialitäten ist gegen den europäischen Geist.

Die Länderchefs vermitteln den Eindruck, dass sie nur an ihre Provinzen denken, anstatt Freunde in Europa zu werben für eine seriöse Diskussion über die Rolle der Länder und Regionen in der EU. Was den besonderen Fall des Bremer Bürgermeisters angeht, so sprechen seine Äußerungen über ein drohendes zentralistisches Gebilde namens Europa und der damit verbundene Vergleich mit Hitler-Deutschland und Ulbricht-DDR für sich selbst. Beim Schm- usen mit Stoiber scheint Henning Scherf jegliches Maß verloren zu haben. Er muss sich entscheiden, ob Bremen weltoffen und europäisch gesehen werden soll oder ob er seine Stadt mit borniertem Provinzialismus ins Abseits stellt“.

Jo Leinen, früherer saarländischer Umweltminister bei Oskar Lafontaine, heute Mitglied im Verfassungs-Ausschuss des europäischen Parlaments, hatte zu einem Streitgespräch Scherf/Kuhn im Weser Kurier geschrieben:

„Henning Scherf ist dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber auf den Leim gegangen. Wie vom Alpenrand so jetzt auch vom Weserstrand tönt es mit markigen Worten gegen die bösen Europäer in Brüssel. Ganz sattelfest scheint sich der Bürgermeister in seiner Attacke nicht zu fühlen, sonst wäre es nicht notwendig gewesen, mehrfach unter der Gürtellinie gegen den Gesprächspartner Hermann Kuhn (Grüne) und die Europa-Abgeordnete Karin Jöns (SPD) zu polemisieren. Es ist bedauernswert, wie wenig selbst Ministerpräsidenten von der Europa-Politik verstehen und wie leicht sie deshalb verführbar sind, in einen anti-europäischen Populismus zu verfallen. (...)

Als Sozialdemokrat bin ich sehr dafür, nicht alle Bereiche der Gesellschaft dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen. Die Anwendung des Art. 86 EG-Vertrag ist jedoch kein Zuständigkeitsproblem, sondern ein politisches Ordnungsproblem. Wir müssen das „Europäische Gesellschaftsmodell“, wie viel Markt und wie viel Staat, definieren. Mit Brüsseler Zentralismus hat dies nichts zu tun. Die Kommission will weder eine europäische Sparkasse noch einen Rundfunk oder europaweite Stadtwerke gründen. Vielmehr geht es darum, ob und wie der Wettbewerb in diesen Sektoren stattfinden soll.

Bei der Debatte um das „Europäische Gesellschaftsmodell“ wird Henning Scherf schnell merken, dass die Einigkeit mit Minis- terpräsident Edmund Stoiber nicht sehr weit geht. (...) Ich wünsche mir von Henning Scherf eine motivierende und vorwärts treibende Debatte über Europa und nicht eine mosernde und rückwärts gewandte Verteidigung von Besitzständen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen