Dokumentation: Sein Name: Lucas
■ Fehlanzeige: Sozialarbeit im Abschiebegewahrsam / Eine Odyssee
Personen in Abschiebehaft würden betreut, heißt es in der Innenbehörde. Wie – darüber gibt die vorliegende Dokumentation der Flüchtlingsinitiative grenzenLOS Auskunft. Heute berät die Bremische Bürgerschaft in zweiter Lesung über ein Gesetz zum Abschiebegewahrsam, wonach „Persönlichkeit und Ehrgefühl“ der Gefangenen berücksichtigt werden sollen.
Montag: Als der mittellose Lucas letzte Woche den Abschiebeknast verließ, riet ich ihm, sich das Geld für eine Straßenbahnfahrkarte von Mithäftlingen zu borgen, wir würden es erstatten. Am Bahnhof treffe ich den großen Lucas (2,06 m) bibbernd vor Kälte. Er war im Sommer (ohne Papiere) festgenommen worden. Weil er nicht sagt, woher er kommt und wie er heißt, wurde er nach drei Monaten Abschiebehaft freigelassen. Er besitzt nichts. Auch keine Strümpfe.
Es folgen drei Stunden grenzenLOSen Einsatzes für Lucas: Tagesfahrkarte kaufen, ihn im Grünen-Büro mit Essen, Trinken und Taschengeld versorgen, mindestens 20 Telefonate führen, um die Unterbringung zu klären. Das Übliche: niemand zuständig. Dann zur Wohnungshilfe im Volkshaus bringen, Kostenübernahmeschein für eine Hotelübernachtung holen, zum Rechtsanwalt, zum Hotel, Stadtplan besorgen.
Dienstag besorge ich eine Winterjacke, versorge ihn wieder mit Essen und Fahrkarte. Die Wohnungshilfe kümmert sich um eine weitere Nacht – im Jacobihaus.
Mittwoch bekommt er beim Ausländeramt eine Duldung für eine Woche. Mittags treffe ich einen erkälteten und fiebernden Lucas. Laut einem Zettel soll er in die Unterkunft Steinsetzer Straße. Das wundert mich, denn ich hatte die Zentralaufnahmestelle für Flüchtlinge und die AWO dort um Hilfe gebeten – vergeblich, Lucas ist kein Asylbewerber.
Donnerstag: Die Lage spitzt sich zu. Anruf von der Woh-nungshilfe. Lucas ist dort. Die Unterkunft Steinsetzer Straße hat Lucas doch nicht aufgenommen. Ob ich mich kümmere? Die Wohnungshilfe sei nicht zuständig. Ich frage nach, wer Lucas in die Steinsetzer Straße geschickt hat und warum. Es gab doch diesen Zettel. Lucas hat die Nacht zu Donnerstag auf der Straße verbracht. Er wird zu mir geschickt, fragt nach mir und geht wieder: verschwunden. Zehn Minuten später, zweiter Anlauf. Erschöpft, krank und mit roten Augen steht er da. Er ist fertig, fängt an zu schreien, geht wieder raus ins Treppenhaus, hält sich am Geländer fest. Ich warne MitarbeiterInnen. Nach ein paar Minuten gehe ich zu Lucas. Er ist noch nicht so weit, versucht aber durch Atemübungen die Emotionen runterzufahren.
Zehn Minuten später kommt er. Er kann nicht mehr sprechen, Wut und Fassungslosigkeit, extreme Anspannung – auch meinerseits, denn vielleicht kippt gleich alles um: Wie? Gegen mich? Gegen sich? Ich hole Zigaretten, Aschenbecher, Saft, Aspirin und sage: Nimm dir Zeit. Er fängt an zu weinen ... Ich warte draußen. In der Zwischenzeit informiere ich die Ausländerbeauftragte, dass ich die Nase voll habe. Rückruf von der Woh-nungshilfe: Das Sozialressort hat entschieden, dass Lucas die nächste Nacht im Jacobihaus übernachten soll. Lucas ist wieder ansprechbar, aber hundetraurig. Ich erzähle Geschichten, und er strickt sich eine Zukunft, wo ich möglicherweise helfen kann. Ich rufe bei der Wohnungshilfe an, ob die Ausländerbeauftragte bereits angerufen hat. Nein. Ich rufe dort zurück. Bei der Wohnungshilfe sei immer besetzt. Ich rufe wieder die Wohnungshilfe an. Sie mögen die Ausländerbeauftragte anrufen. Jetzt lacht Lucas wieder, weil ich völlig entnervt bin. Nach einer Stunde ruft die Wohnungshilfe an. Lucas kann zum Jakobihaus ... für einen Tag und eine Nacht.
Gestern hatte Lucas einen Beratungstermin mit der Wohnungshilfe: ob Sozialhilfe, ob Übergangswohnheim ... Ich hoffe, dass er durchhält.
Ghislaine Valter
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