■ Dokumentation: Auszüge aus der Verteidigungsschrift des PKK-Chefs Abdullah Öcalan: Unser Volk braucht den Frieden
Der Oberstaatsanwalt präsentiert in seiner Anklageschrift eine Momentaufnahme der PKK. Aber wie bei jeder Fotografie dominiert auch hier Seelenlosigkeit. (...) Die Anklageschrift mag der rechtlichen Form genügen, indem sie das anfängliche Programm (der PKK) und ihre Ziele festmacht und Auszüge aus den Reden der Führung zitiert. Aber der politische Sinn (der PKK) wird nicht richtig erkannt, wenn die Veränderungen und Umwälzungen der letzten 25 Jahre in der Welt ausgeklammert werden. Gegenüber der kurdischen Seite wird der Vorwurf erhoben, einen (eigenen) Staat gründen zu wollen. Aber wer will diesen Staat gründen? Wenn das ein Volk ist, welche Geschichte und gesellschaftliche Realität hat es? Ein Text, der auf all dies nicht eingeht, muß subjektiv bleiben. Auch in rechtlicher Hinsicht ist er dann einseitig. Wir betrachten es hier als historische Aufgabe, die Politik der PKK samt ihren theoretischen und politischen Grundsätzen, die ihr Handeln bestimmen, darzulegen. Dies wird eine Antwort auf die Anklageschrift sein. Die juristische Seite (der Anklage) werden wir kaum diskutieren. Wenn die Möglichkeit gegeben ist, können unsere Anwälte das ausführen.
Wie soll man sich also der PKK annähern? Für eine richtige Analyse der PKK und ihre Beurteilung reicht ein klassischer enger juristischer Rahmen zweifellos nicht aus. Die PKK kann nicht durch die herkömmliche nationalistische Sicht erklärt werden, die auf der Leugnung anderer Lebensweisen beruht, nicht durch eine kurzsichtige separatistische, primitiv nationalistische Sicht. Wenn die Türkei sich dieses wichtigsten Problems entledigen möchte, muß sie mit den wissenschaftlichen Maßstäben einer historischen und sozialen Betrachtungsweise die Realitäten aufdecken und darauf basierend eine Kompromißlösung ausarbeiten. Von ihrer gesellschaftlichen Realität und vom gültigen politischen System abstrahiert und vor allem mit den äußerst subjektiven Bewertungen der jüngsten Vergangenheit kann weder die PKK ausgelöscht noch (das Problem) zu einer richtigen Lösung gebracht werden. Beide Seiten müssen ihre extrem propagandistische Sprache korrigieren und eine objektivere Haltung einnehmen. (...) Extrem ideologische und verhärtete politische Haltungen widersprechen der Notwendigkeit der aktuellen demokratischen Lösung. (...)
Die Kurden haben durch ihren Aufstand mit der PKK eines dargelegt: „Wenn du uns nicht als frei akzeptierst, werden Separatismus und Aufstände immer auf der Tagesordnung bleiben. Entweder vereinige ich mich mit dir in Freiheit, oder ich sterbe oder reiße aus. Das wird uns beiden das größte Leid und den größten Schaden zufügen.“ Das ist der Diskurs dieses Aufstands. (...) Die PKK hat, trotz all ihrer utopischen und extremen politischen Perspektiven, die Existenz des Problems und seine Lösungsnotwendigkeit auf frappierende Weise dargelegt und eine Lösung zu erzwingen versucht. Daß sie eine historische Rolle spielte, steht außer Frage. Trotz ihrer Methoden, ihrer politischen Härte und obwohl sie das Ideologische mit dem Politischen vermengte, ist sie beispiellos und hinterläßt der Geschichte ein großes und reiches Erbe.
Für die Akzeptanz der kurdischen Existenz und dafür, daß sie keinen Problemherd mehr bildet, hat sie eine hohe Rechnung bezahlt. Fast 25.000 Märtyrer, über 10.000 ständige Gefangene in 20 Jahren, eine millionenfache Migration, über 3.000 zwangsgeräumte Dörfer, die Wohnorte der Massen, auf die sie sich stützte, die das größte Leid in diesem Krieg erlebten und die größte Opferbereitschaft zeigten. Das alles deutet nicht nur auf das Problem selbst hin, sondern auch auf die Unausweichlichkeit einer Lösung. Wenn wir die Verlustbilanz der Gegenseite, also des Staates, dazuzählen, werden Dimension und Notwendigkeit der Lösung klar. (...)
Das PKK-Bild in der Anklageschrift wird sich selbstverständlich nicht ändern. Ein Bild nutzt sich allenfalls ab, vergilbt. Aber die PKK ist das freie Leben eines Volkes und auch des neuen Menschen. Daß es (das kurdische Volk) eine gewalttätige Geburt hatte, bedeutet nicht, daß es auch so aufwachsen wird. Auch ein Kind wird zur Geburt gezwungen, aber seine spätere natürliche Entwicklung vervollständigt es gewaltlos. Das ist eine Regel der Natur. (...)
Der demokratische Lösungsweg wird die Einheit des Landes und die Macht der Republik nicht nur bewahren, sondern auch stärken. Ein Zusammenleben, das auf freien Entscheidungen und einem freien Willen beruht, bildet die stärkste Gemeinschaft. Die Republik in einer demokratischen Einheit ist die stärkste Garantie gegen jede Art von Separatismus. Wenn das schwerste Problem der Republikgeschichte gelöst ist, wird die Türkei durch die Kraft, die sie aus dem inneren Frieden schöpft, als Vormacht in ihrer Region eine große Schlagkraft erlangen. Ihre Führungsposition im Nahen Osten wird ihren Einfluß von Zentralasien bis hin zu Kaukasien und dem Balkan vergrößern. (...) Dies wird auch das ohnehin schon ziemlich entwickelte wirtschaftliche und kulturelle Potential weiter fördern und zu größerem Wohlstand führen. Die Türkei schreitet mit dieser Perspektive in das nächste Jahrtausend. Das kurdische Problem war ihr ein Klotz am Bein. Nach ihrer Lösung kann sie ihre Macht immens erhöhen und erfolgreich diese historische Kurve nehmen. Ausländische Mächte versuchten mit allen Tricks, die Türkei aus dieser Kurve herauszudrängen, und glaubten, sie könnten ihr Ziel durch die Instrumentalisierung der Kurdenfrage erreichen. In jeder Epoche der Geschichte wurden solche Spiele gespielt. Wenn das Problem unlösbar blieb, hatten sie Erfolg. Also ist es unsere Aufgabe, das Problem selbst zu lösen und es zu der stärksten Waffe umzufunktionieren, mit der wir unsere Gegenspieler besiegen können. (...)
Dieser Prozeß muß zum wichtigsten Friedensprozeß der Republikgeschichte werden. Alle Leiden, Ängste und Primitivitäten des Aufstands muß dieser Prozeß wie einen alten Meilenstein hinter sich lassen, um den Frieden im demokratischen System zu verwirklichen. Meinen eigenen Prozeß zur Grundlage eines würdigen Friedens zu machen ist mein höchstes demokratisches Ideal. (...) Unsere Schuld an diesem Land und unserem Volk können wir mit nichts Wertvollerem sühnen. Ich habe das tiefe Bewußtsein, daß ohne einen gerechten und würdigen Frieden weder in diesem Land noch in der Welt Leben einen Sinn hat. Mustafa Kemal Atatürk, der das vor allen erkannte, machte den Frieden im eigenen Land und den Frieden in der Welt zu seiner Parole. Dieser Grundsatz soll unsere wichtigste Existenzregel sein. Wir glauben daran, daß die von ihm gegründete Republik nur mit demokratischen Grundsätzen den Frieden erreichen und daß dieser Friede zum größten Beitrag für den Frieden in der Region und dem in der Welt werden kann.
Verehrte Richter! Indem ich die Punkte der Anklageschrift des Oberstaatsanwalts auf diese Weise beantworte, spreche ich nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen der PKK, für die ich hier verantwortlich gemacht werde, und im Namen des aufständischen Volkes. Ich versuche einen Lösungsweg für seine Probleme aufzuzeigen. (...) Im Laufe des Aufstands sind Fehler gemacht worden. Ich betone die Vergeblichkeit und Brutalität einer großen Anzahl von (PKK-)Aktionen. Ich fühle das Leid bis in meine Knochen, und ich bin einer derjenigen, die sich am meisten nach Frieden sehnen. Im Laufe jedes Aufstands gibt es Brutalitäten. Es gibt sie auch bei seiner Unterdrükkung. Aber unser größter Trost wäre es, sie (die Kurdenfrage) als eine permanent schmerzende Krankheit unserer Republik zu heilen und zu einem gesunden Teil und einer Friedenskraft zu machen. Ich glaube, daß unser Volk das wie Brot und Wasser braucht. Deshalb sage ich: Dieser Prozeß soll der Meilenstein des heiligen Friedens werden. Die Schuld an der Republik kann nicht außerhalb der demokratischen Einheit gesühnt werden. Alle müssen wissen, daß wir diese Schuld nur als befreite Bürger zurückzahlen können. Es gibt keine Republik der Sklaverei und Lüge. (...) Ich möchte folgendes betonen: Unser Volk, das durch seine schweren feudalen Lebensbedingungen bisher nicht zum republikanischen Volk werden konnte, sehnt sich nach der Verwirklichung des Mottos „Glücklich, wer sich das Volk einer demokratischen Republik nennen kann“. Glücklich, als ein freies Volk weiterzuleben, das keine Abspaltung akzeptiert und Frieden bekommt. Ich glaube daran, daß die Türkei diesen historischen Prozeß im Rahmen der Einheit des Landes und des Staates mit seinem ganzen Volk erfolgreich vollziehen wird.
Übersetzung: Leyla Batur
Die PKK kann nicht durch die herkömmliche nationalistische Sicht erklärt werden
Die Schuld werden wir nur als befreite Bürger zurückzahlen können
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