Dokumentarfilm von Nick Broomfield: Proto-Hippies auf Glückssuche
Liebes- und Popgeschichte: Der Film „Marianne & Leonard: Words Of Love“ erzählt von der Romanze zwischen Leonard Cohen und Marianne Ihlen.
Irgendwann steht da Udo Jürgens in der Tür. Keiner weiß, dass es Udo Jürgens ist oder wer Udo Jürgens überhaupt ist. Leonard Cohen jedenfalls nicht, sonst würde er den österreichischen Kollegen wohl nicht so ignorieren und stattdessen hemmungslos mit Jürgens’ Begleiterin flirten, die wiederum schmerzhaft augenfällig hingerissen ist von Cohen, der hingebungsvoll ihre Hand streichelt.
Wahrscheinlich wusste auch der Unbekannte, der damals die Kamera gehalten hat, nicht, wen er da hinter der Bühne nach einem Cohen-Konzert auf Filmmaterial bannte. Und vielleicht wusste es nicht einmal Nick Broomfield, als er im Schneideraum saß und dieses alte, leicht farbstichig gewordene Material in seinen Dokumentarfilm „Marianne & Leonard – Words of Love“ montierte.
Wie auch immer, diese kleine Szene aus dem Archiv charakterisiert den Leonard Cohen, den „Marianne & Leonard“ zu zeichnen versucht, so gut wie keine andere: Der eine große Songschreiber, Sänger und Frauenheld lässt den anderen großen Songschreiber, Sänger und Frauenheld ganz beiläufig links liegen und schnappt sich das Mädchen.
Denn auch, wenn wir den 2016 verstorbenen Cohen eher als ergrauten Elder Statesman mit Hut, der die unsterblichen Klassiker aus seiner Feder mit bröselnder Stimme vorträgt, in Erinnerung haben: Es gab mal eine Zeit, da war der Kanadier, samtener Bariton, dunkle Haarpracht, melancholisches Lächeln, ein richtiger Popstar.
Ein Haus im Aussteigerparadies
Die Frauen liebten Cohen. Und Cohen liebte die Frauen. Dieser innigen Beziehung konnte selbst der Rückzug in den buddhistischen Glauben und ein jahrelanges Verschwinden in einem Kloster nichts anhaben. Als Cohen Ende der nuller Jahre zu einem umjubelten Comeback wieder auf die Bühne stieg, titelte die Zeit treffend: „Romantiker des Flachlegens“. So sehr Cohen alle Frauen liebte, am meisten von allen Frauen liebte er Marianne Ihlen. Der junge hoffnungsvolle Dichter, der damals noch nicht sang, lernte die Norwegerin 1960 auf Hydra kennen. Die griechische Insel war eine vibrierende Künstlerkolonie, ein frühes Aussteigerparadies, in dem sich auch Cohen für wenig Geld ein Haus kaufte.
„Ich war seine griechische Muse, die zu seinen Füßen saß, er war der Kreative“, erinnert sich Ihlen im Film. Der Begriff Muse mag heute zu Zeiten von #MeToo und nach mehreren feministischen Revolutionen nicht mehr zeitgemäß sein, aber wenn man ihn noch einmal verwenden will: Tatsächlich haben wir Ihlen einen beträchtlichen Teil des Werks von Cohen zu verdanken. Songs wie „So Long Marianne“, „Bird On the Wire“ und „Hey, That’s Not a Way to Say Goodbye“ sind direkter Ausfluss der Liebesgeschichte zwischen ihr und Cohen.
Diese Liebesgeschichte erzählt der englische Filmemacher, der sich neben politischen Dokumentationen immer wieder der Popmusik gewidmet hat, wie in „Kurt & Courtney“ oder zuletzt „Whitney: Can I Be Me“, mit den üblichen Mitteln der Dokumentarbiografie. Mit Material aus den Archiven, von dem vieles zum ersten Mal zu sehen ist, mit Erinnerungen von Freunden und Zeitgenossen wie Cohens Musikern, mit Zitaten aus Briefen und Tagebüchern. Auch Helle Goldman, die Ihlens Biografie geschrieben hat, kommt zu Wort. Nicht zuletzt war Broomfield selbst Zeuge: Er lernte Cohen und Ihlen in den frühen Sechzigern auf Hydra kennen, hatte eine kurze Beziehung mit Ihlen, die ihn, wie er aus dem Off erzählt, mit LSD vertraut machte.
Eine Beziehung als Illustration von Zeitgeschichte
„Marianne & Leonard“ ist deshalb – neben der Künstlerbiografie von Leonard Cohen – vor allem auch eine Liebeserklärung an Ihlen, der Broomfield bis zu ihrem Lebensende freundschaftlich verbunden blieb. Es ist der Versuch, der Muse den ihr zustehenden Platz in der Popgeschichte zuzuweisen. Ohne, und das ist ein Glück, es gleich so aussehen zu lassen, als hätte Cohen seine große Liebe auf dem Altar der Kunst geopfert.
Marianne & Leonard: Words of Love. Regie: Nick Broomfield, USA 2019, 102 Min.
Doch indem Broomfield die Geschichte dieser Liebe nachzeichnet, erzählt er mehr als nur pophistorische Anekdoten und die Entstehungsgeschichte von Songklassikern. Mit der Beziehung zwischen Ihlen und Cohen illustriert er auch Zeitgeschichte: Die beiden Protagonisten sind, so berühmt der eine auch werden sollte, typische Kinder ihrer Zeit. Keine Blumenkinder, aber doch Proto-Hippies auf der Suche nach dem Glück, bevor dieser Lebensentwurf zur vermarktbaren Ware wurde.
Bis es so weit war: drogeninduzierter Größenwahn, emotionale Grenzerfahrungen, Beziehungsexperimente und verzweifelte Sinnsuche an scheinbar unberührten Orten mit besserem Klima als Kanada oder Norwegen.
Das Leben im Garten Eden macht nicht glücklich
Folgerichtig spielt Hydra eine Hauptrolle in „Marianne & Leonard“, man mag sich nicht sattsehen an den zwar grobkörnigen, aber lichtdurchfluteten Super-8-Aufnahmen, in denen von der Sonne strohblond gebleichtes Kinderhaar mit dem tiefen Türkis des Mittelmeers einen berauschenden Kontrast bildet.
Doch dass das Leben im Garten Eden den Menschen nicht zwangsläufig glücklich macht, das zeigt nicht nur die immer freudloser werdende Beziehung der beiden Hauptfiguren. Broomfield zeichnet den Weg weiterer Hydra-Bewohner nach, auf die nach dem Auszug aus dem Paradies im echten Leben nur Misserfolg, Wahnsinn und Freitod warteten.
Auch die großen Liebenden wurden vertrieben. Aber fanden dann doch, weil der Song so enden musste, im Sterben wieder zusammen. Marianne Ihlen starb am 28. Juli 2016 im Alter von 81 Jahren. Leonard Cohen folgte ihr gut drei Monate später. Der letzte Liebesbrief beschließt diesen Film. Er ist – natürlich – wie ein Leonard-Cohen-Song zum Weinen schön.
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