Dokumentarfilm über die US-Staaten: Ein Land voller Konflikte
Der Dokumentarfilmer James Benning bebildert in „The United States of America“ die 50 Staaten der USA. Er tut das gewohnt lakonisch – und mit Witz.
Eine Sandmulde, aus der Überbleibsel einer Holzstruktur ragen. Links sind nur noch Stoppel von den Pfeilern geblieben, rechts meint man eine Art Geländer zu erkennen. Im Hintergrund eine Anhöhe, dahinter in einer weiteren Mulde weitere Häuser. Auf der Tonspur weicht Motorenröhren dem Klavierintro zu „Close to you“ von den Carpenters, einem der großen Hits des Jahres 1970.
„Warum tauchen plötzlich Vögel auf, wenn du in der Nähe bist?“, fragt Karen Carpenters klare Stimme in die unwirtliche Landschaft hinein. Zwei Schrifttafeln gehen der Aufnahme voraus, die 1 Minute und 45 Sekunden lang das Bild füllt. Die erste nennt den Titel des Films, aus dem die Aufnahme stammt: „The United States of America“. Die zweite ordnet die Aufnahme dem Ort Heron Bay, Alabama, zu. In 52 Einstellungen, jede gleich lang, durchquert Regisseur James Benning alle 50 Bundesstaaten der USA sowie den District of Columbia mit der Hauptstadt Washington und Puerto Rico.
Die Bilder des Films widerstehen Seherwartungen. Wie die erste Einstellung zeigen auch alle folgenden keine Sehenswürdigkeiten oder markanten Orte. Das Bild zu New Milford, Connecticut, zeigt eine US-Fahne, die im Wind weht; auf die Tafel „Stemple Pass, Montana“ folgt ein Tal mit Kiefern im Regen, für Duncan, Oklahoma, steht ein Bild mit zwei Ölförderpumpen in einer sandigen Landschaft. Der District of Columbia, der die Hauptstadt Washington umfasst, wird repräsentiert von der Aufnahme einer Statue eines sitzenden Farmers.
Wie in allen Filmen von James Benning sind die Bilder, die die Bundesstaaten repräsentieren, sorgfältig gewählt. Benning arbeitet seit Anfang der 1970er Jahre als experimenteller Filmemacher. Seine Filme sind von Beginn an durch Konzepte strukturiert, viele der Filme arbeiten mit langen, starren Kameraeinstellungen.
Unlösbare Aufgaben
„The United States of America“ greift einen etwa halbstündigen gleichnamigen Film von 1975 auf, den Benning zusammen mit der Regisseurin Bette Gordon realisiert hat. Eine Kamera filmt von der Rückbank eines Autos aus, wie die beiden durch die Vereinigten Staaten fahren. Durch die starre Kameraposition, den Blick aus dem Autoinneren über die Schulter der beiden Filmemacher_innen auf dem Vordersitz und den Blick durch die Fensterscheibe wirkt die Umgebung wie eine der damals üblichen Rückprojektionen.
„The United States of America“. Regie: James Benning. USA 2022, 98 Min.
In einem Interview mit der US-Filmzeitschrift Film Comment beschreibt Benning seine Arbeit an dem aktuellen Film: „Meine Idee für diesen Film war, ein Problem zu schaffen, das nahezu unlösbar ist. Was ist Amerika heute. Man wird an einer solchen Übung immer scheitern.“ Benning nähert sich diesem Problem, indem er konzeptuelle Strenge mit politischem Bewusstsein verbindet. Verschmitzt unterwirft er die Bildauswahl einem Konzept, das er am Ende des Films offenlegt.
Zusätzlich umgibt er die Bilder auf der Tonebene mit Kontext. So unterlegt Benning die Bilder eines Hauses, das in Wilmington, Delaware, stehen soll, mit der berühmten Abschiedsrede des US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower von 1961, in der dieser vor einem militärisch-industriellen Komplex warnt.
Bisweilen sind auch die Bilder selbst subtil politisch: Das Bild zu Wilmington, California, zeigt eine Brücke. Etwa ab der Mitte der Brücke steigt die Straße leicht an. Die Abendsonne strahlt unter der Brücke hindurch. Eine Frau geht im Gegenlicht ins Bild hinein, weicht vom Gehweg auf die Straße aus. Ein Pick-up biegt hinter ihr in die Straße ein, weicht der Frau aus. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die Zelte auf dem Gehweg auf beiden Seiten der Straße. Nichtrepräsentative Repräsentation.
In den 52 vermeintlich unscheinbaren Einstellungen des Films nähert sich der Regisseur einem Land voller Konflikte. All die Debatten zu sozialem Wandel, Eingriffen in die Landschaften, Klimawandel und zu fossilen Energien, der Geschichte der Kriege der USA sind in den Bildern des Films subtil angelegt. „The United States of America“ ist ein Film, der die Fähigkeit, Bilder zu sehen und zu verstehen, reich belohnt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens