Dokumentarfilm über Lampedusa: Warten auf die geeignete Metapher
Gianfranco Rosi war für seinen Berlinale-Abräumer zwar zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die drängenden Fragen beantwortet er trotzdem nicht.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein – so lautet eine moderne Glücksformel, wie sie besonders in der Unterhaltungsindustrie angewendet wird. Die Formulierung ringt dem passiven Warten auf den unverhofften Segen ein Quäntchen Eigeninitiative ab: Man muss schon auch was dafür tun.
Dem italienischen Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi gelang mit seinem Film „Fuocoammare“ das Kunststück, gleich in doppelter Hinsicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Zum einen fand er mit der kleinen Mittelmeerinsel Lampedusa ein besonders bildhaftes Beispiel für das „Flüchtlingsdrama“, das sich an den Grenzen Europas abspielt. Und mit seiner geduldigen Beobachtung des Aufeinanderprallens von beschaulichem europäischem Alltag und tragischer afrikanischer Seenot traf er dann im Februar diesen Jahres exakt den Nerv der Zeit, als sein „Seefeuer“ im Wettbewerb der Berlinale präsentiert wurde.
Vom Moment seiner Premiere an galt „Seefeuer“ als Hauptfavorit auf den Goldenen Bären, und die Jury erfüllte schließlich brav die allgemeinen Erwartungen. Selten war die Berlinale mit ihrem zwiespältigen Ruf, stets die in politischer Hinsicht zeitgeistigen Filme den künstlerisch avancierteren vorzuziehen, ausgesöhnter: „Seefeuer“ schien beides zu erfüllen, das Bedürfnis nach Aktualität und das nach einer filmischen Form, die den Zuschauer fordert.
Für Dokumentarfilmer scheint Lampedusa der Ort der Stunde zu sein: Die winzige Insel vor der Küste Nordafrikas gehört zu Italien. Ihre Kleinheit und ihre Exterritorialität aber machen sie zum „Idealfall“ der Debatte, denn ohne dass man das schmutzige Wort „Schwemme“ benutzt, lässt sich das Bild allein durch Zahlen aufrufen. Rosi stellt zum Auftakt seines Films die Lage folgendermaßen vor: „Die Insel Lampedusa hat eine Fläche von 20 Quadratkilometern. Sie liegt 70 Meilen vor der Küste Afrikas und 120 Meilen vor der Küste Siziliens. In den letzten 20 Jahren sind circa 400.000 Migranten auf Lampedusa gelandet. Beim Versuch, den Kanal von Sizilien in Richtung Europa zu überqueren, starben schätzungsweise 15.000 Menschen.“
Es dauert allerdings eine Viertelstunde, bevor man in „Seefeuer“ einen Flüchtling zu Gesicht bekommt. Denn Rosi, der tatsächlich selbst die Kamera führt, widmet anfangs seine Aufmerksamkeit ganz einem „Eingeborenen“ der Insel, dem elfjährigen Samuele Pucillo. Der tut das, was Jungs in seinem Alter und seiner Umgebung so machen: Er späht die Olivenbäume nach einem geeigneten Ast für eine Schleuder aus, bricht ihn ab und schnitzt ihn zurecht.
Gesichter in Kakteen schnitzen
Später sieht man ihn Gesichter in Kakteen schnitzen, die er dann gemeinsam mit einem Freund beschießt. Samuele ist Rosis Hauptprotagonist, obwohl man nicht wirklich weiß, warum. Nicht dass irgendwas besonders interessant an ihm wäre. Sein Vater ist Fischer, ihm selbst wird schon mal schlecht auf hoher See. In der Schule gilt er nicht unbedingt als der Hellste. Bei einem Arztbesuch später im Film offenbart er sich als originelle Persönlichkeit mit einem gewissen Hang zur Theatralik.
Samuele füllt gewissermaßen die unscharfe Mitte des Films aus. Um ihn herum gruppieren sich ein paar Erwachsene, die in ihrer ausgewählten Begrenztheit auf ihre Weise die Kleinheit der Insel repräsentieren – schließlich weist Wikipedia die Einwohnerzahl Lampedusas mit gerade einmal 4.500 aus.
„Seefeuer“. Regie: Gianfranco Rosi. Italien 2016, 108 Min.
Da gibt es die Großmutter des Jungen, die stets beim Verrichten von Küchenarbeiten gezeigt wird; es gibt den Vater auf seinem Boot; es gibt den Radiomoderator, der italienische Schlager spielt, deren Süßlichkeit einen harten Kontrast zum ständig verhangenen Himmel bildet; und es gibt einen Arzt, der fast ausschließlich in seinem dunklen Kabinett gefilmt wird, bei der Ultraschalluntersuchung einer mit Zwillingen schwangeren Frau etwa oder später am Computermonitor vor dem Bild einer hoffnungslos mit Flüchtenden überladenen Barke. Ihm kommt es zu, irgendwann jenen Satz zu sagen, den der Film als sein diskretes Etikett veranschlagt: „Jeder, der sich als Mensch betrachtet, muss diesen Menschen helfen.“
Obwohl Rosi wie gesagt die ersten Flüchtlingsgesichter erst nach einer Viertelstunde ins Visier nimmt, hat er ihre Präsenz von Beginn an eingeführt: Über Nachtaufnahmen des Meers und sich drehender Funkanlagen hörte man da den Notruf eines Boots und seine Beantwortung aus Lampedusa: „How many people? Your position?“ – „Please!“ – „My friend, hello?“ Kurz darauf sieht man „Tante Maria“ in ihrer Küche beim Radiohören, wo eine Stimme von einem gesunkenen Boot mit über 250 Leuten und bereits 35 gefundenen Leichen spricht. „Die armen Seelen“, seufzt Maria auf.
Italiener als Individuen
Es ist ein Kontrast, der aufstößt, auch wenn man als Zuschauer zunächst gar nicht entscheiden will, ob die Irritation eine produktive ist oder nicht: Den beschaulichen Italienern, die immer als Individuen gezeigt werden in ihren banalen und verständlichen Alltagsverstrickungen, setzt Rosi die Flüchtenden stets als Gruppe entgegen.
Selbst da, wo er sie – endlich – auch mal selbst ihr Schicksal erzählen lässt. Das nämlich erfolgt in der Form eines gesungenen Gebets, bei dem ein Lead-Sänger in Wir-Form vom Bombenterror in Nigeria und den schrecklichen Gefängnissen Libyens erzählt, und von einem bestätigenden Hintergrundchor begleitet wird.
Geradezu verliebt zu sein scheint Rosis Kamera in die eigenartige Schönheit von Szenen, die sich ergeben, wenn eine ganze Gruppe von Menschen zumal mit dunkler Hautfarbe sich in Wärmefolien kleidet: Die bunte, an Glühwürmchen erinnernde Reflexion im Dunkeln begleitet vom metallischen Rascheln in der Nacht erzeugt eine ästhetische Unwirklichkeit, die von der gezeigten Not völlig ablenkt.
Nach und nach stellt sich heraus, dass Rosi bei aller geduldig-langsamen Beobachtung doch eine Dramaturgie mit Spannungsaufbau verfolgt: im Hin und Her zwischen Samuele und seinen Schießübungen, dem Arzt, der Oma und dem Radiomoderator werden die Bilder drastischer: Man sieht tödlich Erschöpfte, die von einem Boot gezogen werden, und schließlich auch Leiber, die in einem Schiffsrumpf nach der Rettung zurückbleiben. Und dann in langen Einstellungen die Gesichter von Frauen, fassungslos, versteinert vor Trauer und Belastung die einen, still weinend die anderen.
Trotz dieser hochemotionalen Schlusssequenz ist „Seefeuer“ kein Film, vor dessen Wirkung man sich fürchten müsste. Zum einen liegt das an Samuele Pucillo, dessen jungenhafte Putzigkeit der Zuspitzung auf politische Grundsatzfragen im Wege steht. Zum anderen ist es aber auch Rosis Methode, die hier ihre Begrenztheit offenbart. Wer lange genug filmt, der wird auf eine geeignete Metapher stoßen, frei nach diesem Motto diagnostiziert der Arzt irgendwann bei Samuele ein „träges Auge“, das zum Sehen gezwungen werden muss, in dem man das „gute Auge“ auf Zeit verbindet. Doch ist das wirklich die Metapher zur Stunde? Dass Europa das Hingucken üben muss?
Bloße Betrachtung als Selbstgefälligkeit
Denn gerade in den viel gelobten Tugenden der „geduldigen Beobachtung“, der „Langsamkeit“ und „Zurückhaltung“ bildet „Seefeuer“ auch ein gutes Beispiel dafür, wie bloße Betrachtung in Selbstgefälligkeit umschlagen kann.
Den drängenden Fragen im Hintergrund kommt Rosi mit seinem Film nicht unbedingt näher: Dass es mitnichten die Gefahren der See sind, die den Flüchtlingen zum Verhängnis werden, sondern eine Grenzschutzpolitik, die sehenden Auges diese Opfer in Kauf nimmt. Und dass über den Umgang mit Flüchtlingen nämlich nicht auf Lampedusa und schon gar nicht durch Lampedusaner entschieden wird, sondern an abstrakten Orten wie den Regierungen Europas, an denen sich leider keine Kamera aufstellen lässt.
Was nicht bedeutet, dass man die Folgen nicht beschreiben, betrachten, diskutieren kann. Aber Samuele Pucillo kann dazu nur wenig beitragen.
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