Doku-Drama über NS-Flüchtlinge: Rekonstruktion einer Irrfahrt
Im Mai 1939 brach die „MS St. Louis“ mit 937 jüdischen Passagieren nach Kuba auf. Die Odyssee und ihr Held waren in Deutschland lange fast vergessen.
Zehn Reichsmark, ein paar Koffer und ihren Sohn Leo. Das ist alles, was Martha Stein (Britta Hammelstein) mitnehmen darf, als sie am 13. Mai 1939 an den Hamburger Landungsbrücken die Passkontrolle absolviert. Das Kreuzfahrtschiff „St. Louis“ soll sie von dort aus in Sicherheit bringen: Weg aus Nazideutschland, hin zu ihrem Mann Walter (Golo Euler) nach Kuba.
Havanna, Kubas Hauptstadt, soll ihnen als Sprungbrett in die USA dienen. Die Ausreise mit Verzicht auf alle Habseligkeiten war die einzige Option, um ihren von den Nazis inhaftierten Mann aus der Haft zu holen.
An Bord des Luxusdampfers der Hapag Reederei kann Stein zunächst durchatmen. Sie ahnt nichts davon, dass Kapitän Gustav Schröder (Ulrich Noethen) sich vorausschauend für die schnellste Route entschlossen hat, um vor zwei weiteren Flüchtlingsschiffen in Havanna anzulegen. Genauso wenig weiß sie, dass Schröder von seiner Reederei informiert worden war, dass es in Havanna Probleme geben könne.
Genau das tritt am 27. Mai 1939 ein, als die „St. Louis“ im Hafen von Havanna festmacht. Die kubanischen Beamten brechen die Passagierkontrollen ab und lassen niemand mehr an Land. Die Einreisedokumente, vom kubanischen Konsulat für 150 US-Dollar pro Stück ausgestellt, sind ungültig. Das Drama beginnt und Kapitän Schröder setzt alle Hebel in Gang, um seinen Passagieren zu helfen.
Hommage an einen stillen Aufrechten
In Havannas jüdischer Gemeinde mit damals rund 15.000 Mitgliedern war die Episode schon lange ein Thema, in Deutschland ist die Geschichte der „St. Louis“ und ihres aufrechten Kapitäns aber weitgehend unbekannt geblieben, obwohl Schröder in Jad Vaschem als Gerechter unter den Völkern geehrt wird.
Erst als 2015 seine alte Seemannskiste von seinen Angehörigen entdeckt und geöffnet wurde, kamen die vielen Facetten der Odyssee der „St. Louis“ ans Tageslicht. Darin lagerten Dokumente und Dankesschreiben etlicher Passagiere, die dem stillen Kapitän ihr Leben zu verdanken hatten.
Auf deren Basis haben die Filmemacher die Irrfahrt mit Schauspielern rekonstruiert und dank Interviews mit den letzten Überlebenden zu einem fesselnden Doku-Drama angereichert. Das erinnert, trotz des historisch so ganz anderen Kontexts, auch an die heutige Situation im Mittelmeer – ist aber vor allem eine Hommage an einen stillen Aufrechten.
Die dramatische Geschichte der „St. Louis“ geht nämlich weiter, denn die kubanischen Behörden blieben hart: Nur 29 Passagiere mit US-Visum und einen gescheiterten Selbstmörder mit schweren Verletzungen ließen sie auf die Insel.
Das Schiff mit nunmehr 907 Passagieren musste die Hoheitsgewässer Kubas verlassen und nahm Kurs auf Miami. Kapitän Schröder hatte die Hoffnung, dass die USA die Flüchtlinge aufnehmen würde. Er telegrafierte nachts in alle Welt, um seine Passagiere nicht wieder zurück nach Europa bringen zu müssen, während er tagsüber die Menschen an Bord zu beruhigen versuchte.
Doch weder die USA noch Kanada wollten die Flüchtlinge trotz aller Verhandlungen jüdischer Organisationen aufnehmen. So gab Schröder schließlich den Befehl, Kurs zurück auf Europa zu nehmen.
„Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis“, 21.10., 20.15 Uhr, ARD
Allerdings nie mit der Absicht, die Passagiere ihrem Schicksal zu überlassen. Die Gestapo, das wusste Schröder, wollte „seine“ Passagiere in Eckernförde in Empfang nehmen, und so hatte er den Plan ersonnen, die „St. Louis“ vor England auf Grund zu setzen. Doch dazu kam es nicht.
Im letzten Augenblick einigten sich Belgien, die Niederlande, Frankreich und England darauf, jeweils einen Teil der Passagiere aufzunehmen – die „St. Louis“ lief den Hafen von Antwerpen an. Immerhin zwei Drittel der Passagiere überlebten so den Holocaust.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe