Diskussion zu Folgen des Mauerfalls: Platte Vorurteile
Plötzlich war eine Wohnung in der Platte nicht mehr prestigeträchtig, sondern Getto: Wie gingen und gehen die BewohnerInnen damit um?
Er sei „mit dem Gegenstand Ostdeutschland verstrickt“, sagt Steffen Mau zu Beginn der Veranstaltung. Und auf die eine oder andere Weise trifft das auf alle zu, die sich an diesem Nachmittag des 9. November hier im äußersten Hohenschönhausen versammelt haben, um mit Mau über das „Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ zu sprechen.
So lautet der Untertitel des Buchs, das Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität, in diesem Sommer veröffentlicht hat und in dem er den Veränderungen des Viertels nachspürt, in dem er aufwuchs: Lütten Klein im Rostocker Nordwesten, Großwohnsiedlung in Plattenbauweise.
Großwohnsiedlung in Plattenbauweise – das trifft auch auf Neu-Hohenschönhausen zu. Die von der Lichtenberger Netzwerkstelle Lichtblicke organisierte Veranstaltung im Projektraum 360 Grad, etwas versteckt hinter einem großen Einkaufscenter, ist deswegen nicht nur eine Lesung aus Maus Buch, sondern auch ein Gespräch über das Leben in diesen Siedlungen, vor, während und nach 89. Als jemand fragt, wie viele Neu-Hohenschönhausener denn im Publikum sitzen, gehen etliche Arme in die Luft.
Dass die Neu-Hohenschönhausener selbst erzählen können, wie es sich hier so lebt, finde sie gut, sagt eine Frau. „Es kommen ja sonst immer so Projektemenschen von irgendwo, die mir erzählen, wie ich lebe.“
Mau hat Humor, das Publikum ebenfalls, und so wird viel gelacht an diesem Nachmittag, manchmal ist es auch eine Art Galgenhumor. Denn wenn hier über den Mauerfall gesprochen wird, weit weg von der Party am Brandenburger Tor, dann geht es auch um Schmerzliches: Während die Plattenbau-Großwohnsiedlungen in der DDR vergleichsweise gute Wohngegenden waren, in denen Menschen wohnten, die im Schnitt etwas besser ausgebildet waren als der Rest der Bevölkerung, galten sie im Westen, wo ebenfalls Großwohnsiedlungen errichtet worden waren, bald als Problemviertel.
„Das war für viele Bewohner ein Schock, der eine Identitätskrise auslöste“, sagt Mau: „Dass man plötzlich ganz unten steht in der gefühlten Hierarchie der Wohnformen; dass das eigene Zuhause als ästhetische Zumutung empfunden wird.“ Da wird genickt im Publikum, aber in eine Opfer-Erzählung kippt die Veranstaltung nicht, zumal es auch Platz für innerostdeutsche Differenzierung gibt. Ein Mann aus Schwerin erzählt, er habe zu DDR-Zeiten Wert darauf gelegt, ein Altbau-Bewohner zu sein und mit den Plattenbaugebieten wenig anfangen können. Erst in den letzten Jahren verstehe er, was an dieser Architektur erhaltenswert sein könne.
Und der Aufforderung, vom eigenen 9. November 89 zu erzählen, kommen vor allem die jüngeren Menschen im Publikum nach, die damals Kinder waren. Eine ältere Frau sagt, sie wolle gar nicht so viel zurückschauen, sondern lieber mal „nach vorne diskutieren“, einen Professor für Makrosoziologie habe man schließlich auch nicht jeden Tag in Hohenschönhausen.
Eine andere Frau erzählt, als Kind habe sie immer in den Plattenbaugebieten wohnen wollen: „Wenn wir nachts vorbeigefahren sind, waren da so viele Lichter, das sah nach Leben aus.“ Aber später dann, in den 90er Jahren und vor allem nach Rostock-Lichtenhagen, habe sie das „abgeschnitten. Für mich waren das dann auch die Nazis in den Gettos, mit denen ich nichts zu tun haben wollte.“
Auch Mau spricht das Pogrom von Lichtenhagen an und zieht eine Verbindung zu der durch die Folgen des Mauerfalls ausgelösten Identitätskrise: eine „kippende Gesellschaft, die Angst hat, zum Getto zu werden“. Entschuldigend klingt das aber nicht bei ihm. In fünf von 78 Wahlkreisen holte die AfD bei der letzten Abgeordnetenhauswahl 2016 ein Direktmandat, Neu-Hohenschönhausen gehörte dazu. Auch das schwingt mit in dieser Diskussion über Identitätskrisen, Entfremdung und Verluste, auch hier, ohne dass diese Faktoren zur Entschuldigung werden.
Die Veranstaltung mit Mau ist die erste im Rahmen eines neuen Projekts von Lichtblicke, gefördert durch die Landeszentrale für politische Bildung. Bei Platte machen für Hohenschönhausen will der Projektleiter Thomas Stange, der auch die Diskussion moderiert, mit den Hohenschönhausenern über politische Themen ins Gespräch kommen. Trotz der Skepsis gegenüber „Projektemenschen“: Ein Anfang dafür ist gemacht an diesem Nachmittag. So viel steht nach der Veranstaltung fest.
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