Diskussion um Unterhalt in der Türkei: Die Männer zahlen nicht
Männergruppen in der Türkei fühlen sich durch die Unterhaltsregelungen nach der Scheidung diskriminiert. Dabei sind die eigentlichen Benachteiligten die Frauen.
In der Türkei wird derzeit über eine Neuregelung der Unterhaltspflicht nach der Scheidung diskutiert. Auf die politische Tagesordnung haben das Thema Männerrechtler-Gruppen gebracht, die sich selbst als „Opfer der Unterhaltspflicht“ bezeichnen. Sie sehen ihre Rechte verletzt, da sie durch die angeblich lebenslangen Unterhaltszahlungen an ihre Ex-Frauen diskriminiert würden. Deshalb fordern sie eine neue Gesetzesregelung, nach der die Unterhaltspflicht zeitlich begrenzt wird. Diese Forderung ist nun auch Thema im türkischen Parlament.
Eine dieser Männerrechtler-Gruppen ist der Verein benachteiligter geschiedener Väter. Der Vorsitzende des Vereins, Muhammet Özen, ist 51 Jahre alt, war ein Jahr verheiratet und hat sich vor acht Jahren scheiden lassen. „Die ganzen Regelungen der positiven Diskriminierung in der Rechtsprechung müssen abgeschafft werden“, sagt er. „Wir haben nichts gegen die Gleichstellung von Mann und Frau, aber es besteht eine positive Diskriminierung, die Gerichte berufen sich immer nur auf die Aussage der Frau. Das können wir nicht hinnehmen.“
Das türkische Zivilgesetzbuch sieht vor, dass die Person, die durch die Scheidung in eine finanzielle Notlage gerät, vom geschiedenen Ehepartner einen sogenannten „Armutsunterhalt“ erhält. Um diesen Unterhalt einfordern zu können, darf die bedürftige Person keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und die Ehe darf nicht durch ihr „Verschulden“ beendet worden sein. Außerdem gibt es den Kindesunterhalt, der den Lebensunterhalt der gemeinsamen Kinder teilweise tragen soll. Auch wenn der Gesetzestext geschlechtsneutral verfasst ist, übernehmen nach einer Scheidung in den meisten Fällen die Frauen das Sorgerecht für die Kinder und haben damit auch Anspruch auf den Kindesunterhalt.
Muhammet Özen zahlt keinen Bedürftigkeitsunterhalt an seine Ex-Frau. Zum Zeitpunkt seiner Scheidung war er Beamter und nachdem er den Unterhalt für das gemeinsame Kind und die Scheidungsabfindung nicht gezahlt hatte, wurde der Kindesunterhalt automatisch von seinem Gehalt abgezogen. Um das zu verhindern, quittierte er den Beamtendienst und arbeitet heute im Importsektor. 2015 stand Özen wegen seiner frauenfeindlichen Äußerungen vor Gericht. „Der Staat lässt dem Mann zwei Möglichkeiten. Entweder, er zahlt bis an sein Lebensende Unterhalt oder er tötet seine Frau. Es gibt keine andere Wahl“, hatte er in dem Interview gesagt.
Bis heute distanziert er sich nicht von diesen Äußerungen. Darauf angesprochen, behauptet er, viele Frauenmorde geschähen wegen des Unterhalts. Solange dieses Problem nicht gelöst werde, so Özen, werde man Frauenmorde nicht verhindern können. Er sei nicht generell gegen Unterhaltszahlungen, sagt er, aber: „Wir sind dagegen, dass eine geschiedene Frau Bedürftigkeitsunterhalt fordert, obwohl sie jung ist und arbeiten gehen könnte. Wenn sie krank und alt ist, wenn sie nicht in der Lage ist zu arbeiten, dann sind wir auch gegen die Scheidung.“
„Ich hätte für meinen Unterhalt kämpfen sollen“
Dabei stellen viele Frauen die Forderung auf den Bedürftigkeitsunterhalt in den Scheidungsverfahren noch nicht einmal, weil sie so schnell wie möglich geschieden werden und vermeiden wollen, dass die Verhandlungen dadurch weiter in die Länge gezogen werden. Den Unterhalt für die gemeinsamen Kinder erhalten sie dann oft auch nicht.
„Ich habe mich vor 15 Jahren scheiden lassen. Seitdem hat mein Ex-Mann den Unterhalt für unser gemeinsames Kind genau einmal bezahlt. Ich wollte mich damals nicht länger mit der Sache herumschlagen, wollte das alles hinter mir lassen und einfach nur so schnell wie möglich geschieden werden. Also bin ich arbeiten gegangen und habe unsere Tochter allein großgezogen“, sagt Servet E. Die 55-Jährige lebt in Istanbul und ist eine von vielen Frauen in der Türkei, die keine Unterhaltszahlungen von ihrem ehemaligen Mann erhält.
Das Gericht entschied in dem Scheidungsverfahren vor 15 Jahren zwar, dass ihr Ex-Mann monatlich 300 türkische Lira (umgerechnet heute ca. 45 Euro) Kindesunterhalt für die gemeinsame Tochter zahlen muss, doch er kam dieser Forderung nicht nach. Ihr Mann habe ihr aus der Ehe Schulden hinterlassen und sei abgehauen, sagt Servet E. Ihre Tochter war 12 Jahre alt, als sich Servet E. von ihrem Mann scheiden ließ. Ihr Ex-Mann habe sie bei der Erziehung der gemeinsamen Tochter weder finanziell noch anderweitig unterstützt.
Servet E. bezahlte mit ihrer Arbeit als Kindergärtnerin die Privatschule ihrer Tochter und kam allein für den Lebensunterhalt auf. „Heute weiß ich es besser, ich hätte für meinen Unterhalt kämpfen sollen“, sagt sie. Es seien harte Zeiten gewesen, aber zu arbeiten und auf eigenen Füßen zu stehen habe sie auch stark gemacht. „Wir haben das alles überstanden“, sagt sie, und ihre Stimme klingt selbstbewusst und gelassen. Inzwischen ist sie in Rente, ihre Tochter ist heute 24 Jahre alt.
Kein Unterhalt bei „unehrenhaftem Lebenswandel“
Die Höhe des Unterhalts, um den es in den Diskussionen geht, der in so vielen Fällen gar nicht gezahlt wird und der nun Anlass für neue Gesetzentwürfe ist, beläuft sich in den meisten Fällen auf 150 bis 400 türkische Lira im Monat, das sind umgerechnet rund 22 bis 60 Euro. Solche Beträge decken die Hälfte des Lebensunterhalts und der Ausbildungskosten eines Kindes nicht ansatzweise ab.
Zu den Hauptforderungen der „Opfer der Unterhaltspflicht“ gehört die Forderung einer zeitlichen Begrenzung der Unterhaltspflicht. In dem betreffenden Gesetzesparagrafen steht, dass dieses Recht „zeitlich unbegrenzt“ ist. Die Frauenkommission der türkischen Anwaltskammer und viele andere Frauenorganisationen weisen allerdings darauf hin, dass der Bedürftigkeitsunterhalt keineswegs zeitlich unbegrenzt ist. Denn laut diesem Gesetz verfällt die Unterhaltspflicht automatisch, wenn die Person, die den Unterhalt erhält, wieder heiratet.
Auch viele weitere Faktoren beenden die Unterhaltspflicht: Etwa, wenn die bedürftige Person eine Arbeit aufnimmt, ein Gehalt bezieht, erbt, oder in einer neuen Partnerschaft lebt. Wenn die benachteiligte Person einen „unehrenhaften Lebenswandel“ führt, kann mit einer Klage sogar eine Aufhebung der Unterhaltspflicht erwirkt werden. Was ein „unehrenhafter Lebenswandel“ ist, beruht nicht auf klar definierten Kriterien, sondern wird dem Ermessen des jeweiligen Richters überlassen. Dazu können zählen: Homosexualität, Ehebruch, regelmäßiger Alkohol- oder Drogenkonsum, Glücksspiel. Aber auch Fotos, die eine Frau in den sozialen Netzwerken geteilt hat, Nachrichten, die sie im Internet mit Männern ausgetauscht hat, oder der Umgang mit männlichen Freunden können als Grund für die Aufhebung der Unterhaltspflicht geltend gemacht werden.
Die Gruppierungen, die sich für eine zeitlich begrenzte Unterhaltspflicht einsetzen, fordern auch die Abschaffung wegweisender Gesetze wie der Istanbul-Konvention zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ von 2011 und dem Gesetz Nr. 6284 „zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen“. Sie behaupten, diese zum Schutz der Frauen erlassenen Gesetze würden der Familie schaden.
Ein Symbol für alle Rechte von Frauen
Frauenbewegungen führen derweil Kampagnen gegen eine zeitliche Begrenzung der Unterhaltspflicht. Die Anwältin Hülya Gülbahar, die sich in diesen Kampagnen für das bestehende Unterhaltsrecht einsetzt, sagt: „Die Frauen kämpfen natürlich in erster Linie für das Unterhaltsrecht, aber das Ganze hat eine noch viel größere Dimension, denn das Thema Unterhalt ist zu einem Symbol geworden für die Gefahr, dass alle Rechte von Frauen einfach zurückgenommen werden können.“
Gülbahar gehört in der Türkei zu den führenden Vertreterinnen des Kampfes für die Rechte der Frauen und hat bis heute an vielen Gesetzesänderungen mitgewirkt. Sie erinnert daran, dass es 2012 in der Türkei auf ganz ähnliche Weise zu einer Debatte um Abtreibung kam. Obwohl damals keine Gesetzesänderung vorgenommen wurde, sei es danach schwieriger geworden, eine Abtreibung durchführen zu lassen.
Sie fordert, dass es beim Unterhaltsrecht nicht dazu kommen dürfe, dass auf dem Papier alles beim Alten bleibt, das Recht aber durch sexistische Urteilsauslegungen der Gerichte praktisch nicht mehr anwendbar ist. Die eigentlichen Benachteiligten beim Thema Unterhalt, betont Gülbahar, sind die Frauen: „Stellen Sie sich das einmal vor, da wird so viel Lärm um Unterhalt gemacht, der gar nicht gezahlt wird. Der Kampf um Unterhalt ist für Frauen ein langer Marathon, ich weiß nicht, wie viele am Ende überhaupt ans Ziel kommen.“
Gülbahar zufolge besteht das größte Problem in der Diskussion um den Unterhalt darin, dass die Arbeit im Haushalt und in der Erziehung als wertlos angesehen werde. „Bei Paaren, die gleichberechtigt leben und sich einvernehmlich scheiden lassen, lässt sich das Problem hingegen einfach lösen und die Öffentlichkeit interessiert sich gar nicht erst dafür.“
Die Anwältin ist überzeugt, dass die Diskussion um den Unterhalt auch eine Nebenerscheinung von tieferen gesellschaftlichen Problemen ist. „Es wäre schön, wenn alle Frauen in der Türkei ihre Rechte, etwa das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf beruflichen Aufstieg und das Recht auf gleiche Bezahlung wie Männer auch tatsächlich anwenden könnten. Dann wären sie nicht auf die paar Lira Unterhalt von irgendwem angewiesen“, sagt sie. „Aber leider ist das nicht der Fall.“
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!