Diskussion über Jogi Löw: Wie wir kicken, wie wir leben
Für die Nationalelf werden „bösere“ Spieler gefordert, vom Trainer mehr „Aggressivität“. Aber wer will, dass wir so künftig miteinander verkehren?
D as 0:6 der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien fiel terminlich genau in die ARD-Themenwoche „Wie wollen wir leben?“. Deutschlands größte Fernsehanstalt hatte unter dem Hashtag #wieleben die Frage gestellt, welche Zukunft wir wollen. Schließlich hat das Coronavirus „die Welt, wie wir sie kannten, aus den Angeln gehoben“, wie es auf der ARD-Website heißt. „Und doch bietet jede Krise auch die Chance, Strukturen zu überdenken, aus Erlebtem zu lernen und neue Ansätze zu wagen.“
Zur „Welt, wie wir sie kannten“ gehört ganz sicher auch die Männernationalmannschaft. Entsprechend sei erlaubt, sie in die Frage „Wie wollen wir leben?“ miteinzubeziehen. Natürlich stößt diese Frage eine höchst normative Diskussion an, und eine kontroverse, da es sehr unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was erstens wichtig oder unwichtig ist und wie zweitens jemand oder etwas sich ändern soll oder muss, um eine bessere Zukunft einzuläuten.
Die emotiven Interpretationen und Auswertungen der 0:6-Niederlage in Spanien geben Aufschluss darüber, welche normativen Erwartungen gegenüber einer deutschen Fußballnationalmannschaft und ihrem Bundestrainer von einer Mehrheit der Fans, Experten und Medienvertreter implizit vorausgesetzt werden.
Stellvertretend für alle besprachen das im ARD-Fernsehstudio der Ex-Fußballprofi und -Nationalspieler Bastian Schweinsteiger und Moderator Matthias Opdenhövel. Insbesondere Schweinsteiger ärgerte sich darüber, dass sich die Mannschaft nicht geschlossen „wehrte“. Zur Halbzeit forderte Schweinsteiger, dass die Spieler „böser“ sein sollten. Opdenhövel kritisierte die mangelnde „Aggressivität“ der Spieler auf dem Platz und des Nationaltrainers am Spielfeldrand. In den folgenden Tagen wurde diese Beurteilung vielerorts aufgegriffen.
Der Autor ist Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Bruder Ilkay ist Fußballprofi bei Manchester City und in der deutschen Fußballnationalmannschaft.
Eine derart kämpferische Rhetorik ist nicht besonders überraschend. Sie gehört zum Fußball, „wie wir ihn kannten“, seit seiner Verbreitung Ende des 19. Jahrhunderts, einer Epoche, die von einer starken Tendenz zu politischem und kulturellem Nationalismus geprägt war. Heute noch zeugen zahlreiche dem Schlachtfeld entliehene Begriffe wie „Angriff“, „Verteidigung“, „Flügel“, „Schüsse“, „Kapitän“ und dergleichen mehr von diesem kriegerischen Erbe.
Fußballer als Soldaten?
Letztlich werden Fußballspieler als Soldaten gesehen, die „kämpfen“ sollten. Eine geradezu idealtypische Heldenfigur ist Bastian Schweinsteiger selbst, dessen Auftreten im WM-Finale 2014 in der Frankfurter Allgemeinen als „unbändig“, „abgekämpft“ und „am Ende von Tränen überströmt“ in Erinnerung gerufen und von vielen Kommentatoren als normativer Maßstab eingefordert wird.
Was sich genau hinter dieser kampfbetonten Sprache im Fußball verbirgt, ist nicht unbedingt leicht zu entziffern. Ist mit „zur Wehr setzen“ oder einer „aggressiven Zweikampfführung“ gemeint, dass die Verletzung eines Gegners hingenommen oder sogar absichtlich provoziert werden soll, um sich einen Vorteil zu verschaffen? Muss im Idealfall, wie bei Schweinsteiger 2014, das eigene Blut fließen? Die meisten Kommentatoren bleiben diese Präzision schuldig.
Ein weiterer, nicht weniger aufschlussreicher Kritikpunkt zielt auf die (mangelnde) Kommunikation der Mannschaft und des Bundestrainers. Dem Coach wird vorgeworfen, nicht genug von der Seitenlinie aus in das Spiel eingegriffen zu haben. Auch die Art der Kommunikation auf dem Spielfeld wird kritisiert. Es fehle an Führungsspielern, die Kommandos geben, so Schweinsteiger. „Mit einem Thomas Müller wäre es lauter gewesen“, sagte Opdenhövel.
Gefordert wird hier eine hierarchische und verbal aggressive Form der Kommunikation, die meist nur in eine Richtung verläuft. Es sei erlaubt, dies im Jahr 2020 zu hinterfragen. Hängt die Qualität der Kommunikation, sei es verbal oder durch Körpersprache, wirklich von Hierarchie und autoritärer Lautstärke ab?
„Alphamännchen“, die rumbrüllen?
Insbesondere vom Bundestrainer und von den älteren Spielern wird häufig erwartet, dass sie die unerfahrenen Spieler regelrecht anbrüllen und ihnen als „Alphamännchen“ zu verstehen geben, was sie alles falsch machen. Eine derartige Kommunikation führt oftmals allerdings nicht zu besseren sportlichen Leistungen, sondern zu allgemeiner Verunsicherung.
Die an die Nationalmannschaft gerichteten normativen Erwartungshaltungen färben unweigerlich auf Fußball spielende Kinder, Jugendliche und Erwachsene von der Kreisklasse bis hin zur Bundesliga ab. Wollen wir wirklich, dass künftige Generationen von Fußballern durch bösartiges Einsteigen auffallen, wenn sie nicht mit der Leistung der gegnerischen Mannschaft mithalten können? Ist es zeitgemäß, einen aggressiven Kommunikationsstil zu pflegen, der Spieler, die Fehler begehen, heruntermacht?
Der Fußball, ob uns das gefällt oder nicht, repräsentiert und vermittelt Normen und Werte und entfaltet in anderen Gesellschaftsbereichen Wirkung. Sollen wir im Klassenzimmer, am Arbeitsplatz und im sozialen Leben insgesamt genauso miteinander umgehen, wie es jetzt von der Nationalmannschaft gefordert wird? Ist das die Antwort, die der Fußball auf den Hashtag #wieleben bietet?
Für TV-Moderator Opdenhövel und Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff rief die Niederlage gegen Spanien Erinnerungen an das Spiel gegen Brasilien bei der WM 2014 hervor, als die deutsche Mannschaft das Halbfinale mit 7:1 gewann. „Jetzt wissen wir, wie sich die Brasilianer gefühlt haben“, sagte Opdenhövel. In Erinnerung an das damalige Auftreten der brasilianischen Spieler sprach Bierhoff von einem „Zerfall“ der eigenen Mannschaft.
Was mir persönlich aus diesem Spiel gegen Brasilien in Erinnerung geblieben ist, ist jedoch die unglaubliche Besonnenheit und Bescheidenheit der deutschen Nationalmannschaft nach dem Schlusspfiff. In einer hochemotionalen Situation verzichtete die Mannschaft darauf, in große Jubelstürme auszubrechen. Dass sie damit von vorgegebenen, scheinbar normativen Handlungsmustern abwich, verschaffte ihr viele Sympathien.
#wieleben – dass diese Frage in der jetzigen Zeit gerechtfertigt ist, wird kaum jemand bestreiten. Eine sinnstiftende Antwort findet nur, wer die althergebrachten normativen Vorstellungen hinterfragt. Auch im traditionsreichen, von Gewissheiten durchtränkten Fußball.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Journalist über Kriegsgefangenschaft
„Gewalt habe ich falsch verstanden“