: Diskurse der guten Absichten
Einmal um die Welterklärungen in hundert Tagen: Die Documenta11 von Okwui Enwezor geht zu Ende. Keineswegs hat sein Konzept wie behauptet die Wahrnehmung von Kunst auf politisch korrekte Botschaften verengt – vielmehr neigt es dazu, diese Wahrnehmung überhaupt für überflüssig zu erklären
von NIKLAUS HABLÜTZEL
In dieser Woche geht die 11. documenta in Kassel zu Ende, und nach den 100 Tagen des Okwui Enwezor wäre es außerhalb der Kunstwelt üblich, eine Bilanz zu ziehen. Hier jedoch fällt es schwer, Aufwand und Ertrag miteinander zu vergleichen. Die Documenta11 hat sich vorgenommen, ihre Fragen weniger an die Kunst als vielmehr an die Welt zu stellen, die in Enwezors Begriffen postkolonial ist. Natürlich können sie nicht mit einer Bilanz des ästhetischen Genusses beantwortet werden. Merkwürdig aber – und durch ihren überdeutlich manifestierten Anspruch nicht erklärlich – ist, dass auch die viel einfachere Frage nach der Gesamtzahl der verkauften (oder auch an Sponsorengäste verschenkten) Eintrittskarten die Direktion in Verlegenheit bringt. Vor dem offiziellen Ende der Schau am 16. September ist sie nicht bereit, solche Daten zu veröffentlichen. Offenbar empfindet sie jeden Versuch einer Erfolgsmessung als unangebracht, denn auch die Versicherung, dass die Frage ohne Hinterhalt und aus rein statistischem Interesse gestellt war, konnte die Verantwortlichen nicht umstimmen. Die Publikumsbilanz ist Verschlusssache.
Das wäre sie wohl kaum, wenn ein Erfolg zu vermelden wäre, der die vergangenen Weltausstellungen der Kunst in Kassel übertrifft. So lässt sich in den letzten Wochen lediglich in Augenschein nehmen, dass die Documenta11 gut besucht, aber nicht überfüllt ist. Wenn es gelegentlich doch eng wird im Innern des Fridericianums und der Binding-Brauerei, liegt es weniger an der Übermasse des Publikums als an den labyrinthischen Gehäusen, in denen Enwezor und seine Mitkuratoren die Kunst verpackt haben, die sie zeigen wollten. Die große Zahl der Videoinstallationen verlangt räumlich ihren Preis. Es ist eng und dunkel in diesen Schaukästen, nur ganz selten und dann als Fremdkörper wirkend, dürfen Bilder oder Skulpturen in einem hellen, weiten Raum auf sich aufmerksam machen.
Erstaunlich, welche Wirkung in solchen Ausnahmesituationen ein so stilles, unauffälliges Werk wie die rußgeschwärzten Leinwände von Glenn Ligon entfalten können. Die monochrome Fläche darf im hellen Licht ihre eigene Tiefendimension ahnen lassen. Man möchte davor stehen bleiben und ein wenig staunen, hätte man nicht das Gefühl, etwas sehr viel Wichtigeres, weil Lehrreicheres, dabei zu verpassen. Tatsächlich erläutert der Katalog, dass dieses unwägbare, rätselhafte Glitzern mehrerer Schichten von Kohlestaub die Aufgabe übernommen habe, das allmähliche Verschwinden der amerikanischen Bürgerrechte für schwarze Schwule darzustellen, denn Ligon hat Textfragmente aus einem Essay James Baldwins von 1935 übermalt.
Alles das und noch viel mehr muss man wissen, der naive Blick ist nicht erlaubt, der sich von der bloßen Form überraschen lässt. Meistens sind es die ausgestellten Arbeiten selbst, die ihn mit ihrer dokumentarischen Botschaft verhindern – und stehen bleiben konnte man noch lange genug vor jenen Hauptwerken, die nur von begrenzten Gruppen betreten werden dürfen oder nur zu bestimmten Zeiten aktiv sind wie etwa Dieter Roths Atelier-Installation und die Vorführungen seines Filmtagebuchs. Dicht gedrängte Schlangen bilden sich davor, und so stellt sich die Frage dann doch, ob es sich lohnt, im Dunkel eines engen Ganges, in schlechter Luft und mit Kreuzschmerzen auszuharren. Für Dieter Roth vielleicht. Die etwa 120 Studentinnen und Studenten, die es übernommen haben, Besuchergruppen durch die Ausstellungsorte zu führen, sprechen übrigens gerne davon, dass wir etwas nach Hause nehmen können. Also doch? Etwas soll uns bleiben, meinen sie, ein Eindruck vielleicht, ein Erlebnis, irgendetwas mithin, wofür es sich gelohnt hat, diese Ausstellung auch wirklich zu besuchen, statt nur den Katalog zu bestellen.
Sie geben sich zweifellos große Mühe, die Führer und Führinnen, nur ist die Direktion leider auch in diesem Fall nicht bereit, Zahlen darüber zu nennen, wie oft ihre Dienste in Anspruch genommen wurden und von wem. Es kann aber kein Zufall sein, dass ihre Arbeit hier mehr auffällt als sonst auf einer Ausstellung gegenwärtiger Kunst. Sie ist hier notwendig und Teil des Konzepts, denn eine Ausstellung ist Enwezors documenta bekanntlich nur im Untertitel. Sie nennt sich „Plattform 5“ nach vier vorausgehenden Kongressen, die ebenfalls „Plattform“ hießen. Schon dadurch ist sie von vornherein eine Kritik an der unreflektierten Erwartung, dass hier Werke der bildenden Kunst bloß zu betrachten seien, Werke, die aus vielen, möglicherweise kontroversen Gründen so vielsagend und bedeutend sind, dass sie für sich selbst sprechen und höchstens nachträglich einer Erläuterung bedürfen. Die Plattform 5 von Kassel will viel mehr sein als bloß ein Rahmen, sie ist das Produkt der modernen Kommunikationswirtschaft und daher auch so entstanden, wie Industrieprodukte heute entstehen müssen. Gar nicht unähnlich der Art und Weise, in der einer der Hauptsponsoren, nämlich der der VW-Konzern, seine Produkte auf den Markt bringt, ist ihr Design entwickelt worden in mehreren Evaluationsstufen.
Nicht die Intuition des Kurators allein, sondern das Fachwissen von Experten unterschiedlichster Gebiete sollte über die Auswahl der Werke entscheiden, so jedenfalls lassen sich Enwezors wortreiche Erläuterungen seiner Konzeption zusammenfassen. Man hat ihr oft ein Übergewicht der politischen Didaktik vorgeworfen, die Realität der Plattform 5 jedoch zeigt ein anderes, vielleicht schwerwiegenderes Problem. Enwezors Konzept hat die Wahrnehmung der gegenwärtigen Kunst keineswegs auf politisch korrekte Botschaften verengt – immerhin ließ es die offenbar unvermeidliche Hanne Darboven ebenso zu wie Louise Bourgeois oder Raimond Petitbon –, es neigt vielmehr dazu, diese Wahrnehmung überhaupt überflüssig zu machen. Denn wichtiger als das tatsächlich wahrnehmbare Werk scheint Enwezor in der Regel seine verbale Interpretation, so als sei selbst ein optisches Spielzeug wie „FluxSpace3.0/Mspace“ des New Yorker Architektenteams Asymptote nur die Illustration eines Fachvortrags.
Das Ergebnis ist ein unentschlossenes Durcheinander von möglichen Beispielen möglicher Antworten auf mögliche Fragen. Das genaue Gegenteil also einer gelungenen politischen Demonstration. Niemand soll überzeugt werden, die Kunstwerke nehmen eher die Stelle jener berüchtigten Zettel aus den Selbsterfahrungsgruppen des mittleren Managements ein, auf denen man seine Wünsche, Schwächen und Stärken aufschreiben muss. Ständig wird auf eine bisher nicht genügend beachtete Betroffenheit hingewiesen, ein Aspekt betont, der nicht zu kurz kommen darf in diesem immerwährenden, imaginären Diskurs, in dem zwar immerzu alles gesagt werden darf, dessen Ziel jedoch unverrückbar feststeht: Es geht darum, die globalisierte, daher komplexe und sich schnell verändernde Welt zu verstehen.
Nur macht diese Arbeit am Begriff niemanden glücklich, wahrscheinlich nicht einmal Enwezor selbst, und über dem weiten Platz vor dem Fridericianum liegt gelegentlich die Stimmung eines evangelischen Kirchentages. Man muss viel glauben und auch ein wenig büßen für die Sünden der Welt, die im Argen liegt. Der Documenta11 gelingt es tatsächlich, einiges davon zu zeigen. Missachtung der Menschenrechte überall, Armut und Gewalt. So massiv auf die Realität fixiert war vielleicht keine davor, weil sie mehr als jede andere die Methoden des modernen Managements auf die Kunst angewandt hat. Sie organisiert Kommunikationsprozesse, sie will politische Kompetenz trainieren und misstraut grundsätzlich jedem Versuch, die Komplexität der Welt auf Kunstwerke zu reduzieren, die für sich selbst sprechen und sich selbst genügen. Im Gegenteil, sie will die Komplexität der Welt erhöhen, um den nächsten Schritt einer gedachten Evolution unseres Selbstbewusstseins vorzubereiten.
Mag sein, dass sich Kunstausstellungen im Weltmaßstab, wie es diejenige von Kassel sein will, in Zukunft nur noch so organisieren lassen. Eine bloße Sammlung nach Kuratorengeschmack ist nicht mehr vorstellbar. Enwezors Konzept hätte ein Vorbild für ihre Nachfolger sein können, tatsächlich aber ist es nur eine Art Vorläufer geworden. Die Plattform 5 ist in Wirklichkeit nur ein weiteres Stadium der Evaluation von Themen, die zweifellos Interesse verdienen, aber es gelingt ihr nirgendwo zwingend zu zeigen, warum diese Phase der Kommunikation engagierter Aktivisten unbedingt eine Ausstellung sein musste. Eine Reihe von Kongressen, von Podiumsdiskussionen, ergänzt um multimediale Dokumentationen, hätte dem Anspruch sehr viel besser entsprochen. So aber wirkt das Finale unfertig, die unter anderem ja auch bedenkenswerte Frage nach den Qualitätsmaßstäben für Kunstwerke, selbst dann, wenn sie dokumentarisch sind, ist offenbar nicht zu Ende diskutiert worden. So blieben denn auch mal peinliche Urlaubsfotos aus einer afrikanischen Hauptstadt an der Wand hängen, und im Kulturbahnhof feierten Videos das ursprüngliche Leben von Ureinwohnern, als habe es nie eine Debatte um den kolonialistischen Blick auf die Exotik der Primitiven gegeben.
Solche Pannen, die es eigentlich verdient hätten, als Skandale öffentlich angeprangert zu werden, waren selten, aber sie kamen vor. Dass sie kaum beachtet wurden, liegt daran, dass Enwezor, wenn es um die Kunst ging, erstaunlich wenig bereit war, entschieden Position zu beziehen. So radikal sich manche seiner Statements anhörten, so unverbindlich ist seine Ausstellungspraxis geworden. Seine Vorliebe für dokumentarischen Realismus ist nicht ausschließlich; wo er ihr nachgab, geriet sie ihm zum milden, politisch folgenlosen Volkshochschulvortrag. So hatten die allgegenwärtigen Führungen ein leichtes Spiel, es gab einfach nichts, das sie nicht erklären konnten, eine gute Absicht und ein sehr ernster sozialer Hintergrund des Künstlers waren immer zu erläutern, ganz gleich, mit welchen formalen, ästhetischen Qualitäten sein Werk die Aufmerksamkeit fesseln mochte.
Ob es sich gelohnt hat? Ganz sicher, kein Konzept der Welt kann erklären, warum man zum Beispiel vor Nari Wards verschweißten Fahrradrahmen und den davor herumliegenden Rollen stehen bleibt. Es ist überraschend, wunderbar, aber dann kommt eine geführte Gruppe mit ihrer Studentin, die allen versichert, auch denen, die es nicht hören wollen, dieses Stahlgewirr stelle einen Baum dar. Ach so. Dafür hat es sich nun nicht gelohnt, für dieses Kunstwerk aber schon. Es ist eben doch der Rest, der bleibt, wenn man alles andere verstanden hat.
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