piwik no script img

Diskriminierung von LGBTQ in KanadaTrudeau entschuldigt sich

Nach dem 2. Weltkrieg wurden viele wegen ihrer sexuellen Orientierung aus dem Staatsdienst entlassen. Premierminister Trudeau bedauert das.

Applaus für die späte Reue: Justin Trudeau im House of Commons in Ottawa Foto: ap

Vancouver taz | Den Tag ihres Verhörs wird Martine Roy nie vergessen. Es geschah Mitte der achtziger Jahre auf einer Militärbasis nördlich von Toronto. Roy war Soldatin und absolvierte gerade ihr Training zur Sanitäterin. Da tauchten an einem Morgen fremde Männer auf, führten sie ab und fuhren sie zu einem kleinen Haus.

Dann ging es los mit bohrenden Fragen: Wie häufig hast du Sex? Mit wem teilst du dein Bett? Bist du etwa eine Lesbe? Fünf Stunden lang wurde Roy verhört. „Ich fühlte mich erschöpft, verängstigt und erniedrigt und hatte am Ende keine Selbstachtung und kein Selbstwertgefühl mehr“, erinnert sich Roy. Irgendwann gab sie unter dem Druck der Ermittler zu, sich in eine Frau verliebt zu haben.

Das Geständnis kostete sie den Job. Roy wurde unehrenhaft aus den Streitkräften entlassen. Man gab ihr neun Tage, um ihre Sachen zu packen. Dann stand sie auf der Straße. Roy fühlte sich schuldig, wurde krank und brauchte über fünfzehn Jahre, um ihr Leben neu zu ordnen als eine Frau, die Frauen liebt.

Wie Martine Roy ging es Tausenden Kanadiern, die im öffentlichen Dienst arbeiteten, sei es in der Armee, im diplomatischen Corps oder bei der Polizei. Bis in die neunziger Jahre hinein wurden viele als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft und gefeuert, weil sie lesbisch, schwul oder bisexuell waren. Die systematische Verfolgung ging oft einher mit einem unfreiwilligen Outing und sozialer Ächtung.

Puls- und Pupillengrößenmessung beim Pornogucken

Es war ein Unrecht, für das sich der Staat jetzt erstmals offiziell entschuldigt hat. Bei einer historischen Sitzung im Parlament in Ottawa bat Premierminister Justin Trudeau am Dienstag die Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen („LGBT“) Kanadas um Verzeihung und stellte ihnen finanzielle Entschädigungen und die Aufhebung von Unrechtsurteilen in Aussicht.

Der sichtlich bewegte Premier sprach in seiner knapp halbstündigen Rede vor voll besetztem Haus von einer „kollektiven Schande“ seines Landes. Tatsächlich mussten „verdächtige“ Beamte in Kanada zum Teil erniedrigende Verhörmethoden über sich ergehen lassen. Dabei kamen auch fragwürdige Lügendetektoren zum Einsatz, die sogenannten „Fruit-Maschinen“.

Dabei handelte es sich um pseudomedizinische Tests, bei denen bei Männern die Atmung, der Puls und die Pupillengröße gemessen wurden, während sie sich erotische Fotos ansehen mussten. Damit wollte man Homosexuelle identifizieren. „Ich stehe hier voller Scham, Reue und tiefem Schmerz und sage: Wir haben uns geirrt. Wir entschuldigen uns. Es tut uns leid“, sagte Trudeau unter dem Applaus aller Fraktionen.

Die Entschuldigung gilt auch für jene Männer, die wegen einvernehmlichen sexuellen Handlungen verfolgt wurden. Homosexualität war in Kanada bis 1969 strafbar. Die Polizei führte sogenannte „rosa Listen“ und in vielen Städten wie Toronto oder Montreal kam es zu Razzien. Die strafrechtliche Verfolgung zerstörte Tausende Existenzen und trieb einige Betroffene in den Tod.

Staatliche Hexenjagd

Trudeau sprach von einer „Hexenjagd“, initiiert vom Staat, bei der Denunziationen und Verrat zum Alltag gehörten. Mit Blick auf die Opfer versicherte er: „Ihr wart keine Kriminellen. Ihr wart unschuldig und habt jetzt Gerechtigkeit verdient.“ Für die entlassenen Beamten und die öffentliche Aufarbeitung der Verfolgung will die Regierung bis zu 145 Millionen Dollar zur Verfügung stellen.

In Ottawa rechnet man damit, dass jetzt bis zu 3.000 Opfer finanzielle Ansprüche geltend machen. Die Entschädigungen sind die Folge von Sammelklagen, die die Betroffenen eingebracht hatten, um Druck auf die Regierung auszuüben. Nunmehr sollen ihnen je nach Schweregrad der Diskriminierung zwischen 5.000 und 150.000 Dollar ausgezahlt werden.

„Kanada ist das einzige Land der Welt, in dem der Staat seine ehemaligen LGBT-Bediensteten um Verzeihung bittet und ihnen eine Entschädigung zahlt“, erklärt Kristopher Wells vom Institut für sexuelle Minoritäten der Universität von Alberta. In Deutschland etwa werden nur Männer entschädigt, die wegen des Unzucht-Paragrafen 175 verurteilt worden waren.

Im internationalen Vergleich untermauert Kanada damit seinen Status als Vorreiter bei LGBT-Rechten. 1992 beendete das Militär die Verfolgung. 2005 führte Kanada als viertes Land weltweit die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ein. Dieses Jahr verabschiedete die Regierung ein umfassendes Gesetz zum Schutz von Transgender-Personen und brachte die Entschuldigung auf den Weg.

Für Martine Roy, die einst ihren Job beim Militär verlor, brachte dieser Tag Genugtuung und Anerkennung. Als Trudeau im Namen des kanadischen Volkes die Entschuldigung verlas, saß sie auf der Besuchertribüne des Parlaments in der ersten Reihe. „Heute war ein historischer Tag von dem ich nicht geglaubt hätte, ihn je zu erleben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Na, davon haben sie ja was, die Betroffenen! Denen sagt Premierminister Justin Trudeau nichts Neues mit seiner Rede. Dass sie „Fachkräfte“ sind, „Patrioten“ und vor allem „unschuldig“, wissen die LGBT selbst (wenn es denn stimmt). Und hätten sie nicht auf Schadensersatz geklagt, die diskriminierten, kriminalisierten und teilweise aus dem Staatsdienst entlassen Kanadier, würde man ihnen nicht einmal die lausigen 67 Millionen Euro anbieten, die derzeit in rede stehen als Entschädigung für ihr erlittenes „Leid“.

     

    Nein, Trudeau kann sich nicht stellvertretend entschuldigen. „Gerechtigkeit“ sieht definitiv anders aus. Und (innerer) „Frieden“ lässt sich nicht mit Geld bezahlen. Den muss man schon mit sich selber schließen.

     

    Übrigens: Grade habe ich gelesen darüber, dass die Fußballer von Theresienstadt unfreiwillig Werbung machen mussten für den „Führer“, der ihnen „eine Stadt geschenkt“ hat, die sie vermutlich gar nicht hatten haben wollen. Nein, ich will Premierminister Justin Trudeau nicht mit Adolf Hitler gleichsetzen. Wie käme ich dazu? Sein Engagement für die Rechte Homosexueller ehrt diesen Mann, wie es schon seinen Vater geehrt hat. Ich würde von Herrn Trudeau nur gerne wissen, ob er sich wirklich wohl fühlt in der (geistigen) Nachbarschaft von Leuten, denen ihr Image über alles gehen muss bzw. musste. Vermutlich, weil sie viel zu genau gewusst haben bzw. wissen (oder doch wenigstens zu wissen glaub[t]en), wer sie wirklich waren respektive sind.