Dirigent Karim Wasfi über den Irak: „Die Jugend sucht nach Identität“
Die Eskalation zwischen dem Iran und den USA findet auf irakischem Boden statt. Kein Zufall, meint Karim Wasfi. Die Protestbewegung bleibt standhaft.
taz: Herr Wasfi, Sie sind gerade aus Bagdad zurückgekehrt, wo Sie die Protestbewegung unter anderem durch Konzertveranstaltungen unterstützen. Wie ist die Stimmung der Demonstrierenden, die seit Wochen gegen die Regierung auf die Straße gehen, nach der jüngsten Eskalation zwischen Iran und USA?
Karim Wasfi: Die Protestbewegung hat deutlich gemacht, dass sie weiterbesteht. Aber natürlich gibt es die Furcht, dass Demonstrierende noch öfter Ziel von Angriffen werden – weil sie in dieser Krise für einen neutralen Irak einstehen und sich nicht auf die Seite Irans schlagen. Damit laufen sie Gefahr, als proamerikanisch oder prowestlich abgestempelt zu werden. Die Regierung versucht bereits seit Wochen, die Leute zu verunglimpfen, statt sie als das zu sehen, was sie sind: Iraker, die versuchen, eine Nation aufzubauen.
Manche fürchten aber, dass sich die Situation weiter verschlimmert und ein Krieg droht – und dass dieser nicht zuletzt auf irakischem Boden stattfinden könnte.
Ja, und viele fragen sich, warum die USA den iranischen General Qasim Soleimani ausgerechnet im Irak eliminiert haben. Für mich ist das keine große Überraschung. Auch die jüngsten Angriffe des Iran und seiner Verbündeten auf US-Einrichtungen erfolgten nicht im Libanon oder in Syrien – sondern hier. Warum? Weil sowohl die USA als auch der Iran hier einen Zugang haben. Die irakische Regierung hat die Angriffe proiranischer Milizen auf US- und internationale Einrichtungen im letzten Jahr nicht verhindern können, womit sie selbst zur Eskalation beigetragen hat.
Ich glaube, dass sich die Demonstranten mehr vor der irakischen Regierung fürchten müssen als vor einer Verschärfung des Konflikts zwischen den USA und dem Iran. Denn diese hat es nicht geschafft, ihre Bürger, die hier friedlich demonstrieren, zu schützen, sondern hat die Gewalt gegen sie mit zu verantworten. 600 Menschen sind seit Oktober getötet worden, über 16.000 verletzt.
Dennoch wurde die Regierung von internationalen Akteuren nur zaghaft für ihr Vorgehen kritisiert.
Das stimmt. Es gab zwar Anstrengungen, mit einzelnen Leuten oder Gruppen der Protestbewegung in Kontakt zu treten. Und in diplomatischen Berichten wurde das, was geschah, auch klar benannt. Nur offizielle Kritik gab es kaum. Eine angemessene Reaktion würde bedeuten, dass die internationale Gemeinschaft anerkennt: Der Irak ist mit dieser Regierung ein gescheiterter Staat. Ein Staat, an deren Aufbau die internationale Gemeinschaft seit 2003 selbst beteiligt ist …
Karim Wasfi, 47, ist Cellist und Dirigent. Er leitete zwischen 2007 und 2016 in Bagdad das Nationale Symphonieorchester. Seit langem engagiert er sich als Aktivist mit zahlreichen Initiativen gegen Radikalisierung und für die Friedensförderung. Wasfi lebt und arbeitet im Irak und in den USA.
… und gegen den die Iraker seit Monaten protestieren.
Genau. Die Leute sehen, wie die Ölexporte der Regierung jeden Tag 300 Millionen Dollar einbringen. Gleichzeitig werden keine neuen Krankenhäuser oder Universitäten gebaut. In den neunziger Jahren, während der US-Sanktionen, gab es zumindest einen einigermaßen funktionierenden Privatsektor. Heute gibt es nicht einmal mehr das. Die Gesellschaft ist gespalten: Es gibt eine kleine Minderheit, die vom System profitiert – die Staatsangestellten und Politiker, die ihre Posten dank Beziehungen oder ihrer Parteizugehörigkeit innehaben. Und dann gibt es die große Mehrheit, die nichts von alledem hat.
In der Außenwahrnehmung verlief die Spaltung des Irak aber lange vor allem zwischen konfessionellen oder ethnischen Gruppen. Hat sich das verändert?
Eine Errungenschaft der Protestbewegung ist, dass sie eine irakische Identität hat aufleben lassen, die zuvor lange verschüttet war. Die Demonstranten sind weder links noch rechts noch identifizieren sie sich mit irgendeiner Religion. Es ist ein Gefühl von Zugehörigkeit entstanden, das stärker ist als alle Differenzen.
Wie kam es dazu?
Da muss ich kurz ausholen: Der Sturz des Saddam-Regimes 2003 war ein Schock für die irakische Gesellschaft. Ein System, ein funktionierender Staat, war von einem Tag auf den anderen einfach weg. Dann kam der Bürgerkrieg; viele flohen aus dem Land, was den Identitätsverlust weiter förderte. Und viele beriefen sich auf ihre religiöse oder ethnische Zugehörigkeit.
2014 kam der „Islamische Staat“, die Gewalt eskalierte einmal mehr, was die Regierung nicht verhindern konnte. All das haben die jungen Iraker mitangesehen und erlebt – während sie gleichzeitig die Welt da draußen über das Internet sahen und von ihren Eltern hörten, wie der Irak früher einmal gewesen war. Diese Jugend sucht nach einer Identität. Und nach Anerkennung.
Sie selber sind bekannt geworden, weil Sie während des Bürgerkriegs in Bagdad zwischen 2006 und 2009 mit ihrem Cello jeweils dort spielten, wo kurz zuvor Bomben explodiert waren. Wie sehen Sie die Bedeutung von Kunst und Kultur für die Protestbewegung?
Es ist erstaunlich: Ich habe so viel gemacht – während meiner Zeit als Dirigent des Irakischen Symphonieorchesters 2007 bis 2016, oder auch als Gründer der NGO „Frieden durch Kunst“, die sich in den Bereichen Deradikalisierung und Friedensförderung engagiert. Schlussendlich war aber dieser eine, persönliche Akt der Ausdauer genauso effektiv.
Auch bei der jetzigen Protestbewegung ist die Kunst ein essentieller Bestandteil. Indem wir Konzerte veranstalten, setzen wir ein Zeichen der Zivilisierung. Manche Politiker haben versucht, die Protestierenden als Ungebildete zu diffamieren, die nur Chaos stiften wollen. Rund um den Tahrir-Platz in der jahrelang vernachlässigten Altstadt von Bagdad hat die Protestbewegung eine Utopie geschaffen – einen Traum von dem Land, in dem sie gern leben möchten. Es ist eine Wiedergeburt all dessen, was jahrelang verunmöglicht wurde.
Lassen sich die Politiker davon beeindrucken?
Ein Regime kann man nicht nur auf der Straße unter Druck setzen. Man muss es auch durch Bildung tun. Die Leute haben realisiert, dass sie selber entscheiden sollten, wie sie leben wollen – und sich dies von niemandem vorschreiben lassen müssen.
Wenn Diplomaten oder Vertreter der internationalen Gemeinschaft mich fragen, was die Protestbewegung erreichen kann, antworte ich ihnen immer: Das Wichtigste hat sie schon erreicht. Dass nämlich die Leute für ihre Rechte und Pflichten aufstehen, dass sie glauben, aus eigener Kraft etwas ändern zu können, und dass sie auch dementsprechend handeln. Irgendwann werden die Politiker merken müssen, dass ihre Rechnung nicht mehr aufgeht. Die Leute, die das Spiel durchschauen, sind in der Überzahl.
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