Direktor des italienischen Flüchtlingsrates: "Es muss um Menschenrechte gehen"
Christopher Hein bereitete die Klage der Flüchtlinge in Straßburg vor. Berlusconi akzeptierte die Misshandlung Papierloser in Libyen, sagt er.
taz: Herr Hein, wie kam die Klage der Flüchtlinge gegen Italien auf den Weg?
Christopher Hein: Wir, der Italienische Flüchtlingsrat, waren in Libyen präsent und hatten Zugang zu einigen Haftzentren, darunter auch zwei, in die die am 6. Mai 2009 Zurückgeschafften verbracht wurden. Wir konnten Kontakt zu Anwälten in Rom herstellen. Glücklicherweise waren wir da, sonst wären sie einfach in der anonymen, riesigen Masse von Flüchtlingen in diesen Haftzentren verschüttet geblieben.
Italien argumentierte seinerzeit, in Libyen seien die Menschenrechte der Flüchtlinge gewährleistet.
Es war schon vor 2009 bestens bekannt, wie die Situation in Libyen war. Es lagen Berichte von Human Rights Watch, von Amnesty, aber auch von der Europäischen Kommission vor, die anschaulich die Zustände in den Haftzentren beschrieben. Es war absolut bekannt, dass die Flüchtlinge in Libyen völlig rechtlos waren, dass sie keinen Asylantrag stellen konnten, dass sie auch permanent Gefahr liefen, in Herkunftsländer wie Eritrea und Somalia abgeschoben zu werden. Das Urteil argumentiert jetzt ja auch, dass Italien mit der Rückschiebung wusste, wohin es die Flüchtlinge brachte.
Ein Schicksal, dass auch den 200 am 6. Mai 2009 Zurückgeschobenen widerfuhr?
Aber ja. Es handelte sich damals übrigens nur um die erste Operation in einer ganzen Reihe, die sich damals fortsetzte. Offiziell ist diese Rückschiebepolitik durch die italienische Regierung nie revidiert worden, auch nicht durch die jetzige.
ist Direktor des CIR – Consiglio italiano per i rifugiati (Italienischer Flüchtlingsrat).
Das Urteil spricht von Folter.
Ich selbst habe einige dieser Zentren gesehen. Dort ist nicht einmal genug Platz für alle auf dem Boden, deshalb schlafen die Menschen abwechselnd, denn während die einen auf dem Boden liegen, müssen die andren stehen. Jeden Morgen beim Wechsel der Wachmannschaft wurden einige ausgewählt und geprügelt. Die einzige Möglichkeit, dem Lager für einige Stunden zu entkommen, war es, Sklavendienste in den Haushalten der Polizisten zu verrichten.
Damals war der Freundschaftspakt Italien-Libyen gerade in Kraft getreten. Was sah der Pakt zur Flüchtlingsabwehr vor?
Italien stellte Libyen sechs Schnellboote zur Verfügung. Und Gaddafi änderte seine Politik, schritt zur Repression gegen Schmugglerdienste. Hinzu kam die Zusage, ohne jede Formalität, ohne Identifizierung der Personen die Flüchtlinge zurückzunehmen.
Wie steht das neue Regime zum Abkommen?
Auch für Libyen ist das Abkommen weiterhin in Kraft. Doch nach dem Urteil ist klar: Die libysch-italienische Flüchtlingspolitik muss jetzt auf ganz neue Füße gestellt werden, es muss um Menschenrechte gehen, nicht um Abwehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga