Dino-Dämmerung: Der Niedergang

Wahrscheinlich steigt der HSV zum ersten Mal in seiner Geschichte aus der Fußball-Bundesliga ab. Wie es so weit kommen konnte.

HSV daheim gegen Wolfsburg. Bild: dpa

Seit Jahrzehnten ist der HSV gefühlte Weltspitze. Die größte Beleidigung, die man ihm zurufen kann, ist „Provinzclub“. Dabei hat er genau dort seine stärksten Wurzeln, in der Provinz. Und nur wenn er sich endlich zu denen bekennt, hat er auch eine Zukunft.

Für einen Jungen, der in den 60er-Jahren in Schleswig-Holstein aufwächst, ist es wohl die am meisten mit Gefühl und Sehnsucht aufgeladene Buchstabenkombination der Welt: HSV. Noch weit vor Lego und Carrera. Das ist die Welt. Noch dazu, wenn der eigene Vater dreimal die Woche mit dem Lkw Butter aus Schleswig nach Hamburg fährt. Wahrscheinlich direkt auf den Frühstückstisch von Uwe Seeler.

Aber wie kommt der HSV ins Dorf, in den Anfangsjahren der Bundesliga, als es einen Fernseher nur im Dorfkrug gibt, und im Radio immer nur die Schlagerparade läuft? Zum Beispiel über den Tippschein der Oma. Die füllt jetzt neben dem Lottoschein auch noch den Totozettel aus. 13er-Wette und 6 aus 39 – das ist kein Glücksspiel mehr wie 6 aus 49, für das man die Zahlen würfeln kann. Dafür braucht Oma Fachwissen.

Also studiere ich die Toto-Vorschau für sie und lerne schon im ersten Schuljahr Wörter wie Piechowiak, Peltonen und Gawliczek. 1965 – ich bin inzwischen im 2. Schuljahr – taucht dann ein Vereinsname auf, der alles verändert. Der den Leseanfänger mehr stimuliert als eine schnöde Abkürzung. Der wird nicht nur vollständig ausgesprochen, sondern noch mit einem Umlaut in die Länge gezogen: Bayern München.

Uwe Seelers tragischer Hinterkopf

Das trifft sich gut, denn wenig später beginnt die Zeit der Entscheidungen. Was bist du: Cowboy oder Indianer? Polizist oder Räuber? HSV oder Bayern München? Diese Entscheidung wäre im Sommer 1965 noch zu verhindern gewesen. Da spielt Holstein Kiel in der Aufstiegsrunde zur Bundesliga, zum Rückspiel gegen Borussia Mönchengladbach nimmt Opa mich mit.

Kiel gewinnt 3:0, Mönchengladbach steigt trotzdem auf, unser Idol Bubi Hönig wechselt zum HSV und Schleswig-Holstein muss weiter – bis heute – ohne Bundesligisten leben. Ich nehme das Schicksal an, das ich ab jetzt mit über tausend anderen Jungs in den Dörfern Schleswig-Holsteins teile: ich verbringe meine Kindheit als Bayern-Fan allein unter HSVern.

Wenn Spieler beider Vereine in der deutschen Nationalmannschaft spielen, kann es zu Verbrüderungen kommen: Vom WM-Finale 1966, das ich im Dorfkrug sehen darf, bleibt Franz Beckenbauer als jugendlicher, Uwe Seeler als tragischer Held in Erinnerung.

Auch beim Halbfinale 1970 gegen Italien rackern beide vergeblich – Beckenbauer mit ausgerenkter Schulter, Uwe Seeler mit dem Hinterkopf. Beide groß in der Niederlage – aber der eine ist Zukunft, der andere Vergangenheit.

Meine Freunde haben nichts von der räumlichen Nähe zu ihren Idolen. Die große Mobilität ist noch nicht ausgebrochen, verkehrstechnisch ist Hamburg für uns Angeliter Dorfjungs so weit weg wie München. Dafür hab ich dann später Fußball auch noch mittwochs, beim Europapokal: Bayern gegen Atlético Madrid, Dynamo Dresden und Ajax Amsterdam. In voller Länge, und nicht nur in der Sportschau wie der HSV.

Auswärts gegen den FC Augsburg. Bild: dpa

Und ab und zu wird ein ganz Großer an die Förde gespült: Am 28. Juli 1972 bereitet sich die Amateur-Nationalmannschaft in Flensburg mit einem Testspiel gegen die Junioren Schwedens auf das olympische Fußball-Turnier vor. Das Team von Jupp Derwall verliert 1:5 und sein Star wird vorzeitig ausgewechselt.

Ich weiß, wo im Stadion die Kabinen sind und bin schon da, als er kommt. Mit knallrotem Kopf und aufgeplusterten-Haaren trottet er an mir vorbei, der Uli Hoeneß. In meiner Erinnerung schimpft er wie ein Rohrspatz, aber das wünsche ich mir wahrscheinlich nur.

Fußball ist als Ganzes pfui

Langsam rücken andere Themen in den Mittelpunkt, mit Brokdorf erhält auch Schleswig-Holstein einen Ort, an dem sich das jugendliche Herz entzündet. Fußball ist zwischen der WM-Schmach von Cordoba (1978), wo Deutschland gegen Österreich verliert, und der Schande von Gijon (1982), wo die deutsche Mannschaft nach einem frühen Treffer das Spielen einstellt, als Ganzes pfui.

Den Aufstieg des HSV erlebe ich genauso desinteressiert wie die Umwandlung von Bayern München zum Wirtschaftsunternehmen von Berlin aus, und als ich aus dem fußballerischem Tiefschlaf erwache, finde ich mich in Bremen wieder, wo gerade Otto Rehhagel eine spannende Mannschaft aufbaut.

Mein zweites Leben als Fußall-Freund beginne ich unter Gleichgesinnten. Außenseitertum definiert sich jetzt global statt lokal. Die alte Liebe Bayern wird zum Klassenfeind und die Beziehung zum HSV komplizierter: Der Bremer Adrian Maleika wird im Volkspark vom Stein eines HSV-Fans getötet und es fällt schwer, sich bei Heimaturlauben mit den alten Kumpels aus dem Dorf über den Gewinn des Europapokals der Landesmeister zu freuen.

Athen 1983

„Da ich die folgenden Ereignisse selbst nicht erlebt habe, bitte ich unseren Schiffs-Arzt Dr. Livsey, sie zu erzählen.“ Leider steht mir kein Ersatzerzähler zur Verfügung wie Jim Hawkins in Stevensons Schatzinsel. Einer, der die 80er-Jahre als HSV-Fan erlebt hat, die Meisterschaften 1982 und 1983, die Pokalsiege, und der vielleicht sogar dabei war 1983 in Athen, als Felix Magath mit einem Schuss aus 25 Metern Dino Zoff im Tor von Juventus Turin überwand.

Der vorläufige Schlusspunkt einer Phase, die mit der Deutschen Meisterschaft 1979 begann und für die vor allem der Name des damaligen Managers Günter Netzer steht. Im kollektiven Gedächtnis sind diese erfolgreichen Jahre immer noch so stark verankert, dass der HSV seither als Scheinriese durch die Lande läuft.

Das schöne Wort "eigentlich"

Das Wort "eigentlich" wird zum HSV-Jargon, denn eigentlich gehört man zu den besten 20 Europas, aber mindestens doch in die Champions League. Und zwar spätestens in der nächsten Saison - und wenn das mal wieder nicht gelingt, muss irgendwer weg, Präsident, Manager, Sportchef, Trainer oder gleich alle zusammen, weil sie den HSV führen "wie einen Provinzklub".

Die Frage lautet nie: "Warum gehört der HSV dahin?", sondern immer: "Warum sind wir da nicht?" Als der Name HSV für mich Synonym für Größe und Stärke war, lauteten die Plätze: 11, 9, 14, 13. Aber das war die Zeit, als Uwe Seeler noch Spieler war, Angebote aus Italien ablehnte und den HSV nicht selbst als "Provinzklub" bezeichnete und solche Dinge sagte wie: "Das ganz große Geld wird in der Champions League verdient, da müssen wir hin." (1995).

Eigentlich ist man gefühlt Champions League in Hamburg. Bild: dpa

Wahrscheinlich ist die Tür Mitte der 80er-Jahre wirklich einen Spalt weit auf, um den Verein so zu professionalisieren, wie es die goldene Generation der Bayern schaffte, wo Beckenbauer, Hoeneß und Rummenigge die Geschäfte übernahmen und bei allen Fehden doch immer wieder ihre jeweiligen Stärken zusammenbrachten. Aber der gewiefte Günter Netzer erkennt 1986, wo künftig die Musik spielen wird und wechselt in die Werbewirtschaft, aus der später die Sportrechtevermarkter hervorgehen. Und sein Nachfolger Felix Magath kann sich damals schon nicht entscheiden, ob er lieber Manager, Trainer oder Präsident ist.

So wird der HSV zum Spielball einer schmierigen Melange aus Politik, Wirtschaft und Medien, die es auch in Berlin, Köln und Frankfurt gibt - dort allerdings nicht mit diesem permanenten "Eigentlich sind wir Weltklasse"-Getue. Als vierte Macht kommt in Hamburg dann irgendwann das Berufsfantum dazu, das den Support von der Kurve in die Geschäftsstelle trägt.

Geplünderte Tombola

Diese Melange spült nun ständig neue sich untereinander nicht grüne Hausmächte und Männerbünde an die Vereinsspitze. Die tragen natürlich alle die Raute im Herzen, aber vor allem die Interessen der Wirtschaftszweige in den Verein, die gerade den Fußball als Akkumulationsmaschine entdecken. In der Reihenfolge des Auftretens: Sportartikel (Schwerpunkt Adiletten), Werbewirtschaft (Schwerpunkt Alkohol), Merchandising (Schwerpunkt Adiletten), Immobilienwirtschaft (Schwerpunkt Ost), Bankwirtschaft (Schwerpunkt Kredite), Bauwirtschaft (Schwerpunkt Stadionbau), Sportrechtevermarktung (Schwerpunkt Pay-TV).

Das bleibt nicht frei von Komik und am Ende steht der HSV da wie der geplünderte Tombolatisch in Milos Formans Film "Der Feuerwehrball" - der charmantesten Hommage an das Dorfleben, die je gedreht wurde. (Den Anekdotenreichtum dieser Epoche kann man in der Chronik "Mit der Raute im Herzen" nachlesen.)

Doch dann wird es ernst. Ich lebe schon einige Jahre wieder in Hamburg, als die Welt, an die der HSV einst Günter Netzer verlor, einen Abgesandten zum immer noch verhinderten Weltklub entsendet. 2003 kommt Bernd Hoffmann vom Sportrechtevermarkter Sport Five als Vereinsvorsitzender zum HSV.

Vorher hatte er bei Ufa-Sports gearbeitet, das 1998 die Bürgschaft für das neue Stadion übernommen hatte. Mit dem Stadion hat der HSV jetzt zwar ein von allen beneidetes Schmuckkästchen - dessen Finanzierung verschärft aber den Erfolgsdruck. Der Stadionname ist schon verkauft und wechselt so oft, dass bei Google Maps zwischenzeitlich drei verschiedene auftauchen - je nachdem welcher Zoomfaktor gerade eingestellt ist.

Die Geldmaschine HSV

Hoffmann gelingt zwar eine Professionalisierung der Vereinsstrukturen, er bringt "die Geldmaschine HSV zum Laufen" (Spiegel), letztlich aber sitzt er dem Denken seiner Herkunftswelt auf, indem er glaubt, der sportliche Erfolg lasse sich planen wie eine Marketingstrategie.

Das geht so lange einigermaßen gut, wie mit Dietmar Beiersdorfer einer an seiner Seite ist, der sportliche und wirtschaftliche Kompetenz vereint und als Ex-Spieler Kredit bei den Fans hat. Dem verzeihen sie sogar seine Zeit bei Werder Bremen, wo er im letzten Rehhagel-Jahr der heimliche Trainer war. Danach hatte er Betriebswirtschaft studiert und als erster Ex-Profi gelernt, dass eine Balanced Scorecard nicht zur Berechnung der Torschützenliste herangezogen wird.

Zusammen schaffen sie es 2006 sogar tatsächlich über die Qualifikation in die Champions League. Dort wird der HSV aber sang und klanglos Gruppenletzter. Die Fans lassen bei der folgenden Mitgliederversammlung ihren Frust an der Presse aus, die unter Hohngeschrei aus dem Saal geworfen wird. Keine schöne Erfahrung.

Voller Einsatz gegen Bremen. Bild: dpa

Nach den verlorenen Derbywochen gegen Werder und Meinungsverschiedenheiten mit Hoffmann streicht Beiersdorfer 2009 die Segel. Die organisierten Fans formieren im Aufsichtsrat den Widerstand gegen den Boss, und nachdem dessen Vertragsverlängerung abgelehnt wird, ist das Kapitel Hoffmann im Frühjahr 2011 beendet.

Wem gehört die Raute?

Inzwischen ist auch die Petersilie vom Buffet verputzt. Fünf Trainer, zwei Sportdirektoren, ein Präsident und diverse Aufsichtsräte später steht der HSV unmittelbar vor dem ersten Abstieg aus der Bundesliga. 100 Millionen Euro Schulden bescheren eine Handlungsspielraum im Bierdeckelformat und die Lizenzvergabe für die kommende Saison ist noch nicht gesichert.

Und dann kommt es wieder zu einer Mitgliederversammlung, die Presse wird nicht rausgeschmissen, aber ich denke, ich bin im falschen Film. Mit Standing Ovations und Siegerfäusten feiern über 5.000 Mitglieder im Hamburger Congress Centrum den klaren Abstimmungserfolg für die Gründung einer Fußball-AG.

Dass die alten Strukturen nicht mehr funktionieren, ist ja allen klar. Aber für eine Ausgliederung der Profis aus dem Verein gibt es so viele vernünftigere Modelle. Eine GmbH & Co. KGaA etwa, eine Kommanditgesellschaft auf Aktien, wie sie in Bremen eingeführt wurde und in die externe Partner auch jederzeit investieren können. Aber diese Modelle haben auf der Mitgliederversammlung keine Chance.

Das Konzept der Gruppe "HSV plus" um den Ex-Aufsichtsratsvorsitzenden Ernst Otto Rieckhoff und einer Reihe von Ex-Spielern, das eine Umwandlung zur AG und den Verkauf von Anteilen vorsieht, erhält über 79 Prozent der Stimmen.

Es ist das Modell, das auch Bayern München hat. Doch dort gibt es Firmen wie Audi, Adidas, Allianz als strategische Partner. Der HSV hat nur Klaus-Michael Kühne, den Milliardär. Der ist, wie die SZ richtig feststellt, kein strategischer Partner, sondern ein Gönner. Und zwar einer, der für seine Gunst auch schon mal Forderungen stellt, die tief ins operative Geschäft eingreifen.

Einer, der den Durchmarsch von Kühne, Rieckhoff und Co. noch bremsen will, ist HSV-Mitglied und Insolvenzanwalt Rainer Ferslev. "Man braucht beim AG-Modell eure Zustimmung nur noch einmal für die Ausgliederung. Und dann Tschüss", sagt er auf der Mitgliederversammlung im Januar. Inzwischen akzeptiert er zwar das Modell von HSV plus, fühlt sich aber von den vorliegenden Verträgen hinters Licht geführt. "Es darf nicht sein, dass Kapitalinteressen die derzeitige sportlich wie finanziell desolate Situation beim HSV ausnutzen und sich den Verein einverleiben", sagt er gegenüber der taz. "Hierbei wird gelogen, dass sich die Balken biegen."

So habe der Vorstand bei einer Informationsveranstaltung am 16. April behauptet, die Raute als Marke müsse aus zwingenden steuerlichen Gründen mit auf die AG übertragen werden, dass habe das Bundeszentralamt für Steuern durchblicken lassen.

"Meine Nachfrage hat ergeben, dass das Amt sich für derartige Erklärungen gar nicht zuständig fühlt", sagt Ferslev. Der Anwalt wird bei der Mitgliederversammlung am 25. Mai beantragen, die Umwandlungsentscheidung zu vertagen, um genug Zeit für eine sachliche Diskussion zu bekommen.

Wieder die Bayern

Diesen Samstagnachmittag kommt der FC Bayern München zum HSV. Uli Hoeneß werde ich vor der Kabine wohl nicht treffen. Er wird sich lieber mental auf seine Knastzeit vorbereiten. Ich kann da keine Schadenfreude empfinden, genauso wie mir die Hochachtung vor seinem Geschäftssinn immer suspekt war. Welche Geschäfte da noch gelaufen sind, bei Bayerns Aufstieg zur fußballerischen Weltmacht, wird man wohl nie erfahren.

Ich werde dem HSV die Daumen drücken. Ich kann nicht behaupten, mich in der S-Bahn auf dem Weg zum Stadion immer besonders wohl gefühlt zu haben. Aber Fans, die den HSV-Masseur Hermann Rieger, den freundlichsten Menschen der Bundesligageschichte, zum Helden gemacht haben, verdienen den Abstieg nicht.

Ich möchte, dass die Arslans, Badeljs und Zouas es denen zeigen, die sie vor der Saison zu Europapokalaspiranten hochschreiben und jetzt behandeln wie den letzten Dreck. Und ich werde zu Olli Dittrich auf seinem Platz rechts neben der Pressetribüne gucken und hoffen, dass der größte lebende Komiker dieses Landes heute für sein Mitfiebern über die gesamte Saison belohnt wird.

Und vor allem möchte ich nicht, dass meine alten Angeliter Kumpels heute Abend die HSV-Fahnen vor ihren Carports auf Halbmast senken. Soll der FC St. Pauli weiter die hippen Großstadtkinder anziehen und Anarchismus als Marke verkaufen. Das Herz des HSV schlägt auf den Dörfern, und heißen sie Hamm, Eilbek oder Hammerbrook.

Nur wenn er endlich dazu steht, hat er eine Zukunft.

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