Digitale Friedhöfe: Heute schon getrauert?

Wenn Heini Rudeck eine Kerze für seine Freundin Ingrid anzünden will, geht er nicht auf den Friedhof. Er setzt sich einfach an den Computer.

Eine Freidhofskerze vor einem Grab

48 Stunden brennt eine gewöhnliche Freidhofskerze. Das Licht einer digitalen Kerze auf einer Gedenkseite erlischt erst nach einer Woche. Foto: dpa

BERLIN taz | Nur zwei Klicks, dann ist er da. Heini Rudeck starrt regungslos auf den Laptopbildschirm. Ein Sonnenuntergang am Meer erscheint. Im Vordergrund ein Grabstein, marmoriert, schlicht. Dazu ein großer Strauß roter, verpixelter Rosen. „Das das ist die Onlinegedenkseite von meiner Ingrid“, sagt er.

„Ich bin jeden Tag hier, einfach so.“ Heini Rudeck ist 79 Jahre alt. Am 25. Mai 2014 verstarb seine Lebensgefährtin Ingrid Beetz an Knochenkrebs. Seitdem ist er alleine, nur die gemeinsame Katze wohnt mit ihm in der großen Altbauwohnung in Berlin-Schöneberg. 36 Jahre lang waren Rudeck und Beetz zusammen.

Angehörige eines verstorbenen Freundes haben ihn auf die Idee mit der Gedenkseite gebracht. Vier Monate nach dem Tod seiner Lebensgefährtin legte er eine Homepage für sie an. Auf der Plattform kann er Fotos und Videos hochladen.

Die Besucher seiner Seite können in einem Kondolenzbuch Sprüche und Beileidsbekundungen hinterlassen: „Miau Mama, bin mal vorbeigekommen“ oder „Hallo Mami, hier ist Miau“ steht dort auf der Seite. Hier schreibt Rudeck auch im Namen seiner Katze Pippi. Besucher können auch eine Kerze anzünden und auf das Grab stellen. Per E-Mail wird der Kerzenanzünder dann benachrichtigt, wenn seine Kerze nach mehreren Tagen „abgebrannt“ ist.

Richard Berk ist Soziologe und Statistiker. Er sagt, seine Algorithmen könnten bei der Geburt herausfinden, ob ein Kind einmal ein Verbrecher werde. Wie berechenbar sind Menschen? Die Titelgeschichte „Wird dieses Kind ein Mörder?“ lesen Sie in der taz. am wochenende vom 24./25. Oktober. Außerdem: Heini Rudeck fällt das Gehen schwer. Trotzdem besucht er das Grab seiner Freundin täglich. Er setzt sich einfach an den Computer. Und: Klaus von Dohnanyi veröffentlicht die Briefe seines Vaters aus der Gestapo-Haft. Ein Gespräch. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

50 Cent, jeden Tag

Doch auch in Rudecks Wohnzimmer neben dem dunklen Wandschrank und den schweren Vorhängen gibt es eine Gedenkecke. Ein großes Foto der Verstorbenen hängt an der Wand, darunter eine Kommode mit vielen Erinnerungsstücken. Eine kleine Jukebox steht darauf, daneben eine Spardose aus Porzellan in Form eines Dinosauriers mit weit aufgerissenem Maul. Jeden Tag hat die verstorbene Beetz 50 Cent in den Schlund des Dinosauriers geworfen, um sich etwas Taschengeld aufzusparen. Rudeck macht das heute noch. Vor der Kommode liegt die Katze Pippi und schnurrt.

25 Jahre lang ging Ingrid Beetz nicht zum Doktor. Plötzlich schmerzte ihr Oberschenkel. Gehen fiel ihr immer schwerer. Dann kam die Diagnose: Krebs. Nach sechs Wochen Krankenhaus hat Rudeck ein Pflegebett gekauft und sie nach Hause geholt. „Vier Monate später ist sie mir hier vor der Jukebox gestorben“, erzählt Rudeck mit einem Zittern in der Stimme. „Sie hat noch gesagt: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Dann hat sie den Kopf zur Seite gelegt, und es war vorbei.“

Der Gedanke, dass sie noch leben könnte, wäre der Krebs früher erkannt worden, belastet Rudeck. „Sie hat immer gesagt: ‚Der liebe Gott passt auf uns auf.‘ Aber hätte sie mal lieber selbst auf sich aufgepasst“, sagt er, zündet sich eine einer selbst gedrehten Zigaretten an und stiert auf den dunklen Teppichboden.

Zum Friedhof, jede Woche

Jetzt liegt sie auf dem Friedhof hinter dem Bahnhof Schöneberg. Wären die S-Bahn-Gleise und ein paar Bäume nicht dazwischen, könnte er direkt aus dem Fenster hinübersehen. Da ihm das Gehen mittlerweile schwerfällt, fährt er einmal die Woche mit seinem Opel Omega dort hin.

Manchmal besucht er sie mit Google Street View. Nach ein paar Versuchen gelingt es ihm, ans Grab zu zoomen

Immer bringt er Blumen mit, mal Rosen, mal Chrysanthemen, je nach Jahreszeit. Die Grabpflege übernimmt er selbst. Er bepflanzt, jätet Unkraut und gießt im Sommer die Blumen. Die Friedhofsgärtner hätten sogar schon zu ihm gesagt, seine Bepflanzung sei die Schönste auf dem ganzen Friedhof. Rudeck macht das stolz, trotzdem sagt er, „ich hab keine Beziehung zum Friedhof.“

Hier in seiner Wohnung sei er seiner Lebensgefährtin viel näher. Als er vor einem halben Jahr die Wohnung renovierte, schrieb er unter die Tapete an die Wand: In dieser Wohnung wohnt ein Geist, der Ingrid Beetz heißt. „Wenn ich mal sterbe, und hier reißt einer die Tapete ab . . .„, diese Vorstellung bringt Heini Rudeck zum Lachen. „Für mich ist es so, als wäre Ingrid immer hier bei mir.“

Trauer, über ein Jahr

Mehr als jeder dritte Deutsche trauert, sagt eine Forsa-Studie. Viele Menschen belastet der Verlust eines Angehörigen länger als ein Jahr. Wie Trauer verarbeitet wird, ist persönlich sehr unterschiedlich. Manche gehen zum Friedhof, andere richten zu Hause einen Schrein an. „Im Internet lassen sich Erinnerungen viel einfacher sammeln und bewahren“, sagt Christian Paechter, Geschäftsführer des Gedenkseitenanbieters e-Memoria.

Bei e-Memoria kann man eine private Gedenkseite kostenfrei für ein Jahr anlegen. Für 199 Euro kann die Laufzeit bis zu zehn Jahre verlängert werden. Im Vergleich kostet ein reales Grab auf einem deutschen Friedhof mit Erdbestattung im Durchschnitt 900 Euro, ein Urnengrab rund 700 Euro. Dazu kommen Kosten für Grabstein, Pflege und die jährlichen Friedhofsgebüren.

Derzeit arbeitet e-Memoria an einer Erinnerungsfunktion zu Sterbe- und Geburtstagen. An den entsprechenden Tagen bekommen die Angehörigen dann eine E-Mail als Erinnerung. Dadurch sollen sie sich als Gemeinschaft identifizieren und auch nach der Trauerfeier in Kontakt bleiben. Rudeck selbst hat seine Gedenkseite bei der Konkurrenz, dem Portal strassederbesten.de, angelegt.

Gamertreff, hin und wieder

Man könnte erwarten, dass vorrangig junge Menschen die Onlinegedenkseiten nutzen, doch die meisten Mitglieder auf e-Memoria sind 50 Jahre und älter. Der Geschäftsführer hat dafür eine Erklärung: „Ältere Menschen besitzen mehr Erfahrung mit dem Tod. Deshalb haben sie keine Scheu, die Trauer auf das Internet auszuweiten“.

Heini Rudeck ist einer von ihnen. „Ich kann kaum noch laufen, aber mein Kopf, der ist noch zu 99 Prozent da“, erklärt er. Seit vier Jahren hat er einen Laptop und ist im Internet aktiv. Seine verstorbene Lebensgefährtin hat ihm damals den Laptop gekauft. „Wahrscheinlich liegt es an dem Kasten, dass ich nicht einkalke“, sagt er.

Jetzt spielt Rudeck online Strategiespiele wie Galaxy oder Empire. Sie funktionieren ähnlich wie das Brettspiel Risiko. „Das ist klasse, das Ding. Mit richtigen Menschen spielt man da. Und ich hab das ganz schnell kapiert“, erzählt er. Durch die Spiele hat er neue Kontakte geknüpft. Zweimal im Jahr lädt er ein paar MitspielerInnen zu sich nach Hause ein, zu Kaffee und Kuchen. Erst vor Kurzem hätten fünf Frauen, 40 Jahre und älter, hier in seinem Wohnzimmer gesessen. Sonst ist Heini Rudeck häufig allein. Viele seiner Bekannten seien bereits gestorben. „Die anderen sind schon lange tot, und ich wackle mit meinen 79 Jahren nachts um eins noch vor dem Internet rum.“

Manchmal besucht er mit Google Street View das Grab von Ingrid Beetz. Es liegt gleich hinter dem Zaun, deshalb kann man es von der Straße aus sehen. Nach ein paar Versuchen gelingt es ihm, direkt an den Zaun heranzuzoomen. „Hier ist die Kapelle, und da liegt sie“, sagt er und fährt mit dem Mauszeiger über die Stelle, an der das Grab ist. „Na ja, das mach ich immer aus Langeweile“, sagt er und klickt verschämt das Fenster zu.

Der Tod, irgendwann

Rudeck fingert eine seiner Zigaretten aus einer Blechdose und zündet sie sich an. „Das Internet ist besser als der Fernseher“, erzählt er. Natürlich gäbe es Sachen, die ihm im Internet zu kompliziert seien. „Aber dann setze ich mich hin und suche so lange, bis ich alles verstanden habe.“

Die Frage, ob er gläubig sei, beantwortet er mit lautem Lachen. „An den lieben Gott glaub ich, aber irgendwie anders“, er macht eine Pause, atmet Zigarettenrauch durch die Nase aus. „Dass es irgendetwas geben muss, das glaub ich, aber in die Kirche geh ich nicht.“ Über das Jenseits und das, was wohl nach dem Tod passieren wird, will er nicht sprechen. Vielleicht ist die Ungewissheit zu schmerzlich: Ob er Ingrid wohl je wiedersehen wird?

Rudeck hat alles geregelt. Das Testament ist geschrieben, sein Platz auf dem Friedhof neben Beetz ist gesichert, und auch die Beerdigung ist schon bezahlt. Eigentlich dachte er immer, er würde vor ihr sterben. Jetzt sitzt er allein auf der schwarzen Ledercouch im Wohnzimmer. „Wofür lebe ich? Dass ich auch den Löffel abgebe?“, fragt er. Stille.

Er drückt seine Zigarette aus und schlurft langsam hinüber zum Schreibtisch. Er öffnet die Gedenkseite. Wieder erscheinen der Sonnenuntergang und das Grab. „Diese Kerze habe ich angezündet.“ Als er mit der Maus über eine kleine weiße Kerze fährt, die auf dem Grabrand steht, erscheint „Guten Morgen, liebe Inge“ neben dem Mauspfeil. Die pixelige Flamme flackert nervös.

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