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Diesseits der Steppe

In Breslau verdichten sich für Norman Davis und Roger Moorhouse die Erfahrungen Mitteleuropas. Sie liefern eine flotte Geschichte der Stadt als Mikrokosmos der Region

Breslau ist wieder im Gespräch. Sei es als Ort für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Europa oder als Bewerber für die Expo 2010. Eine Stadt mitten in Europa, deren Irrungen und Wirrungen der vergangenen tausend Jahre erst jetzt einem breiten Publikum bewusst werden. Genau zu diesem Zeitpunkt erscheint auf Deutsch Norman Davis’ und Roger Moorhouse umfangreiche Geschichte zu Breslau.

Die Autoren betrachten die Stadt als beispielhaft für die Geschichte in „Mitteleuropa“ – ein Begriff, der erst nach dem Ende der Blockkonfrontation 1989 wieder diskursfähig geworden ist. Mitteleuropa definieren sie als Transregion, die im Laufe der Jahrhunderte von Ost und West gleichermaßen politisch und kulturell beeinflusst worden ist. Die Siedler waren keltischen, germanischen, slawischen und semitischen Ursprungs. In der englischen und polnischen Fassung trägt das Buch den treffenden Titel „Mikrokosmos“, denn Breslau ist in der Tat der Mikrokosmos Mitteleuropas, in dem sich alle Erfahrungen dieser Region verdichten.

Schon die Entwicklung des Stadtnamens deutet auf eine wechselvolle Geschichte des Ortes hin. Wie also die Stadt nennen? Die Autoren haben aus der Not eine Tugend gemacht und nennen die Stadt jeweils so, wie sie im untersuchten Zeitrahmen hieß. Deshalb arbeiten sie sich von der so genannten Inselstadt (Breslau liegt zwischen mehreren Flüssen) in der Frühzeit über Wrotizla im Mittelalter, bis hin zu Presslaw, Breslau und heutigem Wrocław vor.

Die Geschichte der Stadt ist chronologisch erzählt. Gleichwohl ist dem ersten Kapitel ein Prolog vorangestellt, der in der Kapitelabfolge eigentlich nach hinten gehört hätte. Es geht um die Flucht und Vertreibung der Deutschen und um die Ereignisse, die dazu unmittelbar geführt haben. Gemessen an der tausendjährigen Geschichte der Stadt könnte das Jahr 1945 nur eine Episode sein. Im sicheren Gespür für die augenblickliche Konjunktur des Themas haben Verlag und Autoren entschieden, diesen Aspekt sehr prominent zu verarbeiten.

Es macht Spaß, das viel diskutierte Thema aus der Feder vorurteilsfreier britischer Historiker nachzulesen, die uns die gelegentlich vergessene Tatsache in Erinnerung rufen, dass die ersten Vertreibungen (damals Evakuierung genannt) auf Anweisung der deutschen Militärverwaltung vonstatten gingen. Der erste Todesmarsch im Januar 1945 kostete 90.000 Breslauer das Leben. Hitler hat Breslau geopfert, um die Rote Armee von strategisch wichtigeren Plätzen abzulenken. Die Stadt kapitulierte vier Tage nach Berlin. Dass sie so lange durchhielt, führte der katholische Geistliche Johannes Kaps noch 1962 auf den christlichen Verteidigungswillen vor dem Angreifer zurück, der „aus den weiten Ebenen Asiens dahinraste“. Kulturelle Geografie sei nicht seine Stärke gewesen, quittieren die Autoren trocken: „Ohne es zu wissen, enthüllte er die fehlerhafte mentale Karte, die Deutsche so oft auf Abwege geführt hatte.“ Bekanntlich begann auch für Adenauer östlich von Berlin die asiatische Steppe.

Davis und Moorhouse reichern ihre Ausführungen häufig mit leichten Personengeschichten an, die in den historischen Abriss eingewoben sind, wie etwa der Fall von Ilse Braun, die aus Breslau flüchtete und im Berliner Adlon ihre Schwester Eva traf. Für die Historie Breslaus mögen diese Geschichten zumeist ohne Belang und wenig wissenschaftlich sein, sie bringen aber einen dramaturgischen Vorteil. In guter angelsächsicher Tradition verlieren die Verfasser den Leser nie aus den Augen und bereiten einen komplizieren Stoff recht illustrativ auf. Man wünscht sich, deutsche Historiker würden zuweilen auf solche journalistischen Übungen zurückgreifen. RICHARD HEIMANN

NormanDavis/Roger Moorhouse: „Die Blume Europas. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt“, 702 Seiten, Droemer Verlag, München 2002, 38 €

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