„Diese Tagebücher legen Feuer dran“

Franz Kafkas in Oxford lagernde Quarthefte sind als „Tagebücher“ bekannt. Eine kritische Neuedition ficht diese Einordnung an: Das Konvolut von privaten Notaten, Zeichnungen und poetischen Entwürfen des Prager Jahrhundertzauderers wird nun im Faksimile als „Arbeitsbuch“ vorgestellt

von JÜRGEN BERGER

Die Bände erscheinen zur Frankfurter Buchmesse. Und wenn stimmt, was die beiden Herausgeber der Historisch-Kritischen Franz-Kafka-Ausgabe (FKA) behaupten, kommt das einer kleinen Sensation gleich. Roland Reuß und Peter Staengle sagen, dass die in der Oxforder Bodleian Library lagernden Quarthefte aus dem Nachlass Franz Kafkas nicht das sind, als was die gesamte literarische Welt sie bislang kannte: Tagebücher. Kafka, so Reuß/Staengle, habe die Quarthefte eher wie ein Arbeitsbuch geführt. Gegen eine eindeutige Genrezuordnung spreche vor allem, dass lange Passagen mit poetischen Entwürfen gefüllt sind.

Aber gemach. Zunächst einmal finden sich in den Heften natürlich tagebuchartige Notate wie das vom 13. Oktober 1911. „Kunstloser Übergang von der gespannten Haut der Glatze meines Chefs zu den zarten Falten seiner Stirn. Eine offenbare, sehr leicht nachzuahmende Schwäche der Natur. Banknoten dürften nicht so gemacht sein“, steht da unvermittelt auf einer Seite der Quarthefte, die heute in kleinen, unscheinbaren Kartons im Bodleian-Safe lagern. Ihrem Anblick deutet nicht auf einen Streit in der philologischen Fachwelt, doch er brach los: Nicht allein wegen der Zuordnungsschwierigkeiten, mit welcher Textgattung man es denn hier nun zu tun habe. Die Heidelberger Germanisten Roland Reuß und Peter Staengle mussten bis Anfang letzten Jahres darum kämpfen, Kafkas so genannte Oxforder Handschriften neu edieren zu können.

Dabei ging es nicht unbedingt darum, ob die Handschriften wertvoll seien. Es ging eher um ein Kafka-Monopol, das bisher der Fischer-Verlag inne hatte. Seit der Frankfurter Verlag Stroemfeld/ Roter Stern seiner ebenfalls von Reuß/Staengle besorgten Kritischen Kleist-Ausgabe Kafka folgen ließ, wähnte der Branchenriese seine Pfründen in Gefahr. Der Grund für die Empfindlichkeit: Reuß/Stangle sind als akribisch texttreue Herausgeber bekannt. In der neuen Edition aus dem Hause Stroemfeld wird jede Seite, die Kafka schrieb, auch als Faksimile reproduziert. Künftig kann also jeder Kafka fast so lesen, als hätte er die Originalmanuskripte in Händen. Darauf reagieren andere Germanisten und Verlage merkwürdigerweise nicht nur mit Lobeshymnen. Man wird eher nervös, sobald die Heidelberger ihr textkritisches Instrumentarium auspacken. Das war im Falle Heinrich von Kleists so, und das wird auch jetzt so sein, wenn die ersten beiden Bände der Oxforder Handschriften erscheinen.

Dass die Handschriften in die FKA einfließen können, wurde Anfang letzten Jahres vertraglich geregelt. Der Vertragsabschluss ist von großer Bedeutung, da in der englischen Universitätsstadt das größte Kafka-Konvolut lagert. Neben den Aufzeichnungen in den Quartheften, die jetzt versehen mit einem Kommentarband den Auftakt bilden, finden sich im Bodleian-Safe unter anderem auch die Handschriften der Romanentwürfe von „Das Schloss“ und „Der Verschollene“. Ab dieser Woche kann der Kafka-Liebhaber nun detektivisch der prägnanten Handschrift des Prager Jahrhundertzauderers nachspüren. Dabei wird er im ersten Band auch auf die „Glatze des Chefs“ (Heft 1, S. 172) stoßen. Sie zierte Oberinspektor Eugen Pfohl, Kafkas direkten Vorgesetzten in der „Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag“.

Pfohl war zu diesem Zeitpunkt 44 Jahre alt, Kafka 28 und ein von Depressionen und Schlaflosigkeit gepeinigter Mitternachts-Schriftsteller. Ein Beispiel: „Sonntag, den 19. Juni 10 geschlafen aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben.“ Ein Grund für die Schlafstörungen war die Versicherungsanstalt. Kafka litt am Arbeitsplatz. Er litt noch mehr, tauchte Pfohl in seiner Nähe auf. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine Passage, die zeigt, wohin unterschiedliche Editionsprinzipien führen könnnen. Am 19. 2. 1911 beschreibt Kafka wie angeschlagen er ist. Als er aus dem Bett gestiegen ist, sei er – völlig überarbeitet – einfach zusammengeklappt. Ein schreckliches Doppelleben mute er sich zu, konstatiert er. Dann kommt die entscheidende Stelle: „Ich schreibe das bei gutem Morgenlicht und würde es sicher nicht schreiben, wenn ich sie nicht so liebte wie ein Sohn. Im übrigen bin ich morgen schon wieder sicher beisammen und komme ins Bureau, wo ich als erstes hören werde, dass sie mich aus Ihrer Abteilung weghaben wollen.“

Dass Kafka gegen Ende seines Eintrages plötzlich aus der Beschreibung seines eigenen Zustandes heraustritt und einen imaginären Adressaten mit „wenn ich sie nicht so liebte“ anspricht, veranlasste Hans-Gerd Koch, den Herausgeber der Fischer-Gesamtausgabe von 1999, die gesamte Seite des Quartheftes als Briefentwurf zu werten, herauszulösen und dem Briefband seiner Edition zuzuordnen. Dass er Kafkas Vorgesetzten Pfohl als Adressaten annimmt, ist nachvollziehbar. Nicht allerdings, dass die Seite tatsächlich ein Briefentwurf sein soll. Warum denn, so die Frage, spricht Kafka einen 16 Jahre älteren Mann zuerst als einen an, den er „liebt wie einen Sohn“, um ihm dann sofort zu unterstellen, er wolle ihn aus der Abteilung ekeln.

Nicht nur aus diesem Grund beließen die Herausgeber der neuen FKA den Eintrag dort, wo Kafka ihn geschrieben hat. Liest man ihn jetzt und sieht den folgenden Eintrag vom selben Tag, wird einmal mehr ein Mensch sichtbar, der zwischen niederschmetternder Depression und hochfahrender Selbsteinschätzung schwankte: „Die besondere Art meiner Inspiration in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um 2 Uhr nachts schlafen gehe sie wird vielleicht, wenn ich nur den Gedanken daran ertrage, bleiben, denn sie ist höher als alle früheren und zweifelllos bin ich jetzt im Geistigen der Mittelpunkt von Prag“. Sich selbst als geistigen Mittelpunkt Prags zu sehen, ist starker Tobak. Das hat wohl auch Kafka bemerkt. Er strich den Satz – heftig und flächendeckend.

In der Fischer-Ausgabe allerdings wurde die Streichung im Kommentarband versteckt. Wollte der Herausgeber an dieser Stelle etwa pietätvolle Rücksicht walten lassen, wo er kurz zuvor alles andere als pietätvoll eine ganze Seite aus dem Kontext löste? Wie dem auch sei. In der FKA ist die Streichung im Faksimile reproduziert. Und die Herausgeber haben in der Umschrift rekonstruiert, was Kafka strich. Er war an diesem Tag offensichtlich heftigen emotionalen Schwankungen ausgesetzt und spielte fiktional mögliche Geisteshaltungen gegenüber seinem Vorgesetzten durch. Die Situation dieses Tages ist in der FKA erstmals ungefiltert im Kontext begreifbar, da die Herausgeber dem Leser alle verfügbaren Informationen an die Hand geben.

Ein Editionsprinzip, das unter anderem zur Folge hat, dass auch Nichtgermanisten früher oder später bemerken, dass im Falle Kafkas eine Genreangabe wie „Tagebuch“ schwerlich zu treffen ist. In den Quartheften finden sich zwar Stellen, die dem entsprechen, was man gemeinhin als Tagebucheintrag versteht. Es gibt unter anderem viele Einträge zur jeweiligen Lektüre von Xeno bis Hebbel. Daneben finden sich Momentaufnahmen wie „Die jungen gut gekleideten Jungen neben mir im Promenoir erinnerten mich an meine Jugend und machten daher einen unappetitlichen Eindruck auf mich“ oder „Schriftsteller reden Gestank“. Es gibt aber auch metapoetische Betrachtungen, die wirken, als wollte Kafka spätere Genrezuordnungen seiner Notate kommentieren. „Ein wenig Goethes Tagebücher gelesen. Die Ferne hält dieses Leben schon beruhigt fest, diese Tagebücher legen Feuer dran“.

Für Kafka selbst war das Leben alles andere als beruhigt. Und er betrachtete es auch nicht aus der Ferne, wie ein sich selbst inszenierender Tagebuchautor. Dafür, dass er seine Notate nicht als Tagebucheinträge verstand, sprechen auch lange Passagen mit poetischen Entwürfen. Im ersten Quartheft etwa erstreckt sich über mehr als 20 Seiten eine poetische Reflexion Kafkas über seine Erziehung, die daran beteiligten Personen und mögliche Auswirkungen. Er setzt immer wieder an, variiert und baut aus. Die Frage, die sich in diesem Falle stellt: Warum wechselte Kafka, wenn er tatsächlich Tagebuch führen wollte, im Falle des poetischen Entwurfs nicht das Medium?

Genausowenig wie er sich um derartige kategoriale Zuordnungen kümmerte, fühlte er sich nicht bemüßigt, seine Notate durchgängig mit Datumsangaben zu versehen. Und es kümmerte ihn auch nicht, dass ein streng in Genres wie Roman, Erzählung oder Briefe operierender Germanist angesichts der Quarthefte an den Rand des Wahnsinns getrieben wird. Dass ihn das alles nicht kümmerte, ist allerdings auch ausschlaggebend dafür, dass die Notate so reizvoll sind und mit einem alles andere als harmonischen Wechsel überraschen. Da finden sich zum einen Seiten mit feinen Strichzeichnungen hochhackiger Frauen. Auf der nächsten entpuppt Kafka sich als Meister sprachlicher Feinzeichnungen des Physiognomischen. Und ganz plötzlich gibt er Intimes preis – nicht nur von sich selbst, sondern auch von Menschen seiner Umgebung. „Ausserdem gestand mir L seinen Tripper; als ich seinem Kopf mich zuneigte dann berührte mein Haar das Seine, ich bekam Furcht wegen immerhin möglicher Läuse“, steht da. Auch das ist eine der Stellen, die dafür sprechen könnten, dass es sich um Tagebücher handelt. Dass Reuß/Stangle dieser Genrenezeichnung widersprechen, wird für Diskussionen in den nächsten Wochen sorgen. An deren Ende könnte sich ein neuer Sprachgebrauch einbürgern. Unter Umständen spricht man künftig ganz einfach von Kafkas Oxforder Quartheften.

Franz Kafka: „Oxforder Quarthefte 1 & 2“. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/M. 2001. 543 Seiten. Subs.-Preis 198 DM, separat 228 DM