■ Die verölten Fluten kamen ganz woanders an, als von den französischen Behörden vorausgesagt. Und zwei Drittel des Öls sind noch in dem gesunkenen Tanker „Erika“ auf dem Meeresgrund. Keiner weiß, wie es aus dem Schiffsrumpf herausgeholt werden kann: Angst, dass dies erst der Anfang ist
Der Sturm war stärker als alles, was die französische Atlantikküste im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erlebt hatte. Er begann in der Nacht zum 24. Dezember und er trieb eine zähe, klebrige Masse vor sich her.
Die ersten Klumpen landeten rechtzeitig zu Weihnachten an Land. Just dort, wo niemand sie mehr erwartet hatte - in der Südbretagne. Der Ölfilm zog sich über die Sandstrände, die Felsen, die Kiesel und die Hafenquais. Seither bringt jede neue Flut Nachschub. Und jedesmal dehnt sich das Katastrophengebiet etwas weiter nach Süden aus.
Mit Plastikschaufeln, Rechen und Eimerchen machten sich tausende von Freiwilligen in der Bretagne an die Arbeit. Erwachsene und Kinder, Einheimische und Touristen kratzten weg, was sie konnten, sammelten verteerte Vögel ein und brachten die noch lebenden unter ihnen zum Ornithologischen Zentrum in Brest. Dabei hatten viele Tränen in den Augen. Andere schäumten vor Wut auf die unfähigen Behörden. Denn die hatten- eine kleine Katastrophe inmitten der großen - die Ankunft der verölten Flut für ein Gebiet vorausgesagt, das 200 Kilometer weiter südlich liegt.
Weil die staatlichen Katastrophenhelfer seit Tagen weiter südlich, rund um die Loire-Mündung, konzentriert waren, mussten sich die Südbretonen in den Départements Finistère und Morbihan zunächst ganz alleine helfen.
In aller Eile fuhren die Austernzüchter mit ihren Traktoren ins Watt, um von ihren Ernten der kommenden Jahre zu retten, was noch zu retten ist. „Niemand hat uns gewarnt“, schimpften sie in den Wind, „es ist alles wie vor 21 Jahren. Seit der Havarie der ,Amoco Cadiz‘ hat sich hier nichts verändert.“ Die nicht verteerten Metallnetze, in denen sie ihre Austern züchten, verschickten sie inzwischen zur Zwischenlagerung in die Normandie.
In großer Hektik verlegten sie auch schwimmende Barrieren vor ihren Hafeneinfahrten. Doch weil zu deren Aufbau zwei Fluten nötig sind und weil außerdem das Meer stürmisch blieb und die Wellen bis gestern Morgen immer höher wurden, half auch das nicht viel weiter. Die mit Öl verpestete Flut schwappte einfach über die Barrieren hinweg.
Seit gestern ist auch die Atlantikküste weiter südlich erfasst. Dort sind es nicht mehr kleine Flecken, sondern hunderte Meter lange und Dutzende Meter breite Lachen aus mit Wasser vollgesogenem Schweröl, die an Land geschwemmt werden. Angesichts der Ausdehnung dieser Verpestung nehmen sich die paar tausend Katastrophenhelfer mit ihrem rudimentären Werkzeug, das jenem der südbretonischen Freiwilligen nichts voraus hat, erbärmlich hilflos aus.
Die aus einem abgebrochenen Weihnachtsurlaub zurückgekehrte grüne Umweltministerin sagte Politikern im Département Loire-Atlantique am Samstag, es sei „noch zu früh, um von einer Öko-Katastrophe“ zu reden. Und sie versicherte allen Betroffenen: „Wir lassen euch nicht allein.“
Doch die Küstenbewohner können und wollen solche Beschwichtigungen nicht glauben. Inzwischen wissen sie, dass es Jahre dauert, bis sich das Ökosystem regeniert hat. Dass immer neue Ölklumpen auftauchen können, die angesichts der Konsistenz dieses Schweröls unvorhersehbar sind. Und dass selbst dann, wenn längst Entwarnung gegeben wurde, neue Ölflecken an Land schwappen können.
Denn in 120 Meter Tiefe, wenige Dutzend Kilometer vor der Küste, lauert eine gigantische Ladung Nachschub. Beim Zerbrechen der „Erika“ am 12. Dezember ist nur ein Drittel ihrer Schweröllast ins Meer gelaufen, 10.000 bis 12.000 Tonnen. Die beiden anderen Drittel blieben im Bauch des zerstörten Schiffsrumpfes, über dessen vernachlässigten Zustand es bereits vor Jahren erste Beschwerden gegeben hatte. Niemand weiß, wann diese Zeitbombe am Meeresboden explodieren wird. Und niemand hat bislang eine Möglichkeit gefunden, das Schweröl aus dem Schiffsrumpf zu holen. Das Unglück der „Erika“, die sich im Gegensatz zu der 1978 havarierten “Amoco Cadiz“ mit 220.000 Tonnen Öl an Bord auf den ersten Blick wie ein kleiner Tanker ausnimmt, könnte langfristig schwerwiegendere Folgen haben; für die Natur, aber auch für die Wirtschaft der betroffenen Regionen.
Schon jetzt haben Helfer über 6.000 verölte Vögel aus den Wellen gefischt - über 2.000 mehr als bei der „Amoco Cadiz“. Längst ist auch klar, dass das Schweröl aus der „Erika“ viel schwieriger von den Küsten zu entfernen ist. Wie Kaugummi heftet es sich an die Stiefel und Schaufeln und an die Gehäuse der Meerestiere.
Auch die Vorboten der wirtschaftlichen Folgen sind bereits spürbar. Bei den Austernzüchtern, die zu Jahresende in Frankreich Hochsaison haben, gehen seit Weihnachten Stornierungen ein. Und die Fischer, die noch in der letzten Woche ihre Netze zwischen den Öllachen ausgeworfen haben, erinnern sich jetzt angstvoll an ihre bretonischen Kollegen, die nach der Havarie der „Amoco Cadiz“ bis zu acht Jahre aussetzen mussten.
Dorothea Hahn
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