■ Die neue Pünktlichkeitsfitness macht Schluß mit den vielen kleinen Freuden des Bahnreisens: Ganz souverän in Kipplage
Die Bahn AG hat uns bisher soviel Freude bereitet und jetzt das: „Fitness 99“.
Dabei hatten wir doch gerade erst den tiefen Sinn des Mottos „Kommt Zeit, kommt Rat“ erkannt. Nicht wahr? Hatten wir nicht erst jüngst erkannt, wie fein die Zugverspätungen auf die länger werdenden Aufenthalte abgestimmt waren? Das hatte System! Und die Preise stiegen proportional zu den Verspätungen: je länger die Bruttoreisedauer, desto teurer. Und was wir alles erleben durften, seit wir auf den großen Bahnhöfen plötzlich nicht nur lebende Fische kaufen konnten, sondern auch die Möglichkeit bekamen, uns an Tombolas zu beteiligen.
Denken wir nur an die beschaulichen Überlandfahrten im Schienenersatzverkehr, die Raum boten für ein persönliches Gespräch mit dem Busfahrer. Erinnern wir uns noch einmal an den Moment, als es uns zum ersten Mal gelang – ganz souverän – den IC-Sitz in Kipplage zu bringen! Oder an den heimlichen Stolz, mit dem wir die Mechanismen der WC-Anlagen durchschauten! Unbeschreiblich war das Erfolgserlebnis, als wir endlich in den neuen Messe- oder Hauptstadtbahnhöfen die Etage mit den Gleisen gefunden hatten. Oder das Gefühl der Erlösung, wenn wir nach langem Ausharren endlich in das fragende Gesicht eines Schalterbeamten blicken durften. Vom atemlosen Triumph ganz zu schweigen, der uns nur kurze Zeit später überkam, wenn die automatischen Türen hinter uns zuschnappten und wir dem Herren danken konnten, daß es auch unser Gepäck geschafft hatte. Und immer hielt man uns einen Platz frei, falls der Wagen, für den wir reserviert hatten, gar nicht vorhanden war. Und ehrlich gesagt, steht man im häuslichen Ambiente des ICE auch viel besser als im Pkw!
Die Bahn lehrte uns innezuhalten. Wer freut sich inzwischen nicht über Verspätung und Ausfälle? In vollstem Einverständnis verpassen wir mittlerweile unsere Züge, schlendern durch die Bahnhofs-Malls, lauschen der dezenten Musik, die aus den Lautsprechern plätschert. Und wer, wenn nicht die Bahn, setzte den ewigen Fragen nach dem Wohin und Woher ein Ende und verzichtet auf Informationsflut, insbesondere wenn ein Zug ausfällt. Warum mit dem ganzen Gepäck auf ein anderes Gleis hetzen, wenn doch schon 24 Stunden später vom gleichen Bahnsteig wieder ein Zug in unsere Richtung fährt? Erst mit der Bahn lernten wir wirklich abzuschalten. Und Freunde zu finden. Was haben wir schon für nette Mitbürger und Mitbürgerinnen kennengelernt, wenn wir vorm Service-Point in Ohnmacht fielen.
Und das soll jetzt vorbei sein? Die unbezahlbaren Stunden im Wind, die vielen Cappucchini zum Zeitvertreib. So ein „Pünktlichkeitsmanager“, der würde das doch alles kaputtmachen.
Aber am Personal droht das ganze Unternehmen ohnehin zu scheitern. Ja damals, als das Service-Team noch Schaffner hieß und „Fahrkartenkontrolle“ machte und herrlich herrschaftlich motzen durfte! Das hatte Unterhaltungswert. Wie öde hingegen die ständigen Entschuldigungen, daß heute leider wieder das Kartentelefon defekt ist. Nein, dann schon lieber eine Bahn ganz ohne Personal. Das wäre nach unserem Geschmack. Nur so besteht schließlich Hoffnung, daß wir das Gute-Nacht-Ticket noch erleben dürfen. Annegret Böhme
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