: Die letzten Überlebenden
Erst In-Wort, dann Un-Wort: „Grunge“, der vorletzte Musiktrend, ist vorbei, und hinterher will's wie immer keiner gewesen sein – mit einer erstaunlichen Ausnahme: Mudhoney, der Ur-Grunge-Band, die einfach weitermacht wie gehabt. Ein Historiengemälde in drei mehrfarbigen Tafeln ■ Von Thomas Winkler
Dies wird ein Artikel zum Ausschneiden und Aufheben. Wer in ein paar Jahrzehnten die Bildplatte mit dem original Buchenholzfeuer in den virtuellen Kamin schiebt, um es sich mit seinen Enkeln gemütlich zu machen, wird ihn vielleicht noch mal brauchen können. Wenn die lieben Kleinen, neugierig wie sie wohl auch dann noch sind, nämlich fragen: „Sag mal, was habt Ihr früher denn so Musik gehört.“ Kaum zu erwarten, daß einem dann sofort das Wörtchen „Grunge“ über die Lippen rutscht – aber wenn, dann sollte man vorbereitet sein.
Sicher, eine Zeitlang sprach jeder davon. Doch kaum einer wußte Genaues. Und heute schon weißkaum noch jemand, was Grunge eigentlich war. Ganz bestimmt absolut in Vergessenheit wäre die Sache geraten, hätte es da nicht jenes Trio gegeben, das inzwischen durch eindeutiges Selbstverschulden zum Duo geschrumpft ist, und jene Platte herausgebracht hat, die sich wie der Teufel verkaufte. Dazu später. Aber was zum Himmel war Grunge nun eigentlich?
Fragen wir doch einfach welche, die dabei waren, Zeitzeugen sozusagen. Darf ich vorstellen: Steve Turner und Dan Peters aus Seattle, Washington, Gitarrist und Schlagzeuger von Mudhoney. Die beiden Herren verabschieden sich gerade vehement vom Twentysomething- Sein, haben sich aber eine quirlige Art und Weise erhalten, die sich nicht nur in ihrer Musik, sondern auch im Gespräch auswirkt. Auf dem Interviewband ließen sich die ständig ins Wort fallenden, andauernd ergänzenden Stimmen nicht mehr trennen.
Also, meine Herren, was bitte schön ist denn nun Grunge: „Jede Band aus Seattle, die als Grunge- Band bezeichnet wird, ist eine Grunge-Band.“ Netterweise haben sie nicht laut aufgestöhnt bei der Frage, aber man bekommt dafür die Antworten, die man verdient hat. Keine musikalische Definition von Grunge möglich? „Leute haben es versucht, aber es gibt nicht die geringsten musikalischen Gemeinsamkeiten zwischen uns und Pearl Jam, uns und Soundgarden, zwischen Pearl Jam und Soundgarden oder zwischen den Screaming Trees und Alice in Chains. Eine laute, nervige Band aus Seattle ist Grunge.“ Punkt.
Mudhoney aber haben sich ein Spielchen draus gemacht, daß „jede der von uns erwähnten Bands es hassen würde, Grunge genannt zu werden“. Während alle Welt sich wehrt, hat ihre Plattenfirma statt dessen nichts besseres zu tun, als auf dem Waschzettel zur neuen CD „My Brother The Cow“ die vier netten Herren als „The Lazy Grandpappies of Grunge“ zu outen. Es stört sie nicht weiter: „Wir sind die einzigen, die es zugeben. Oder zumindest akzeptieren. Außerdem ist es immer noch besser, Grunge-Band genannt zu werden als Heavy-Metal-Band.“ Womit wir immer noch nicht viel weiter wären bei der Frage, was Grunge eigentlich ist.
Der Langenscheidt gibt auch nicht viel her, da findet sich „to grunt“, was „grunzen“ bedeutet, und „grudge“, das mit „Groll“ übersetzt wird, aber kein Grunge weit und breit. Doch im Spezial- Wörterbuch „American English“ wird man fündig: „Dreck“ soll es heißen. Bleibt bloß noch zu klären, wie es kam, daß dieses Wort zum Synonym für langhaarigen Rock werden konnte.
Authentizität, Rock'n'Roll, Dreck eben
Die Legende geht so: Bruce Pavitt und John Poneman, was die Gründer und Besitzer eines kleinen Independent-Labels in Seattle namens SubPop sind, saßen eines Tages zusammen zwecks Austüftelung einer Marketingstrategie. Pavitt und Poneman waren auf der Suche nach einer Schublade, mit der sie die Bands, die sie unter Vertrag hatten, auch außerhalb von Seattle verkaufen konnten. Das stand in krassem Gegensatz zu sonstigen Indie-Strategien: Bands und Labels legten damals, Ende der 80er, Wert auf ihre Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit, Einordnungen waren ihnen verhaßt. Weil nun keine der gängigen Bezeichnungen alle ihre Bands unter einen Hut bringen wollte, dachten sich die beiden einfach eine aus – Grunge war geboren.
Dieser von Pavitt und Poneman kolportierten Version widersprechen Mudhoney allerdings: „Die haben das Wort nicht erfunden, aber sie haben sich die Rechte daran gesichert, bevor es jemand anders tat. Tatsächlich haben sie den Namen von zwei kleinen Langweilern aus Seattle gestohlen, die sich heute noch streiten, wer von den beiden ihn nun eigentlich erfunden hat.“
So oder so, die offensive Strategie war nach außen ein Erfolg. Ein relativ einheitliches Artwork für Plakate und Cover tat ein übriges, die genialste Idee aber waren die Promotion-Fotos. Es waren ausschließlich Aufnahmen von Auftritten, meist grobkörnig, oft noch mit Publikum drauf. Auch das einzigartig damals.
So trug jedes Foto jeder Band des „Grunge“-Labels SubPop, egal wie sie nun tatsächlich klang, tausendfach gedruckt in Fanzines und Magazinen zu einem ganzheitlichen Image bei, das signalisierte: Authenzität, wild, ungebändigt, Rock'n'Roll, Dreck eben. Grunge war ein Markenzeichen, und SubPop garantierte die Qualität.
Mudhoney waren die konsequenteste Inkarnation dieser Kopfgeburt. Ihre erste Single hieß „Touch Me, I'm Sick“ – perfekt. Sie waren jung, langhaarig, mochten die Stooges und liebten Neil Young abgöttisch – noch perfekter. Sie rissen ihre Verzerrer auf und nannten ihre erste EP „Superfuzz Bigmuff“, auf dem Cover nur noch Haare – superduperperfekt. Sie waren everybody's darling und das Ticket von SubPop in die große weite Welt. In ihrem Fahrwasser traten auch die Screaming Trees, Soundgarden, Dwarves, Sister Double Happiness, die Afghan Whigs oder Love Battery landesweite US-Tourneen an, manche schafften es sogar bis ins ferne Europa.
Das Klima war günstig: Der HipHop hatte Metal entdeckt, und die schweren 70er Jahre hatte das Label SST aus der Versenkung geholt und rehabilitiert. Man durfte auf Parties wieder Black Sabbath auflegen, und SubPop war Hauptthema an allen Theken aller Clubs dies- und jenseits das Atlantiks. Trotzdem schuldeten Pavitt und Poneman allen ihren Bands Geld und standen kurz vor der Pleite. Dann verscheuerten sie ein eher mediokres Trio, dessen Debut- Platte „Bleach“ bleischwer in den Regalen lag, an die Major-Plattenfirma Geffen, sicherten sich aber vertraglich eine Beteiligung am Gewinn.
Verzerrer im Titel: Superfuzz Bigmuff
Der Rest ist bekannt: „Smells Like Teen Spirit“ wurde von MTV bis zum Erbrechen abgenudelt, und die CD „Nevermind“ dürfte bis heute weltweit über 10 Millionen mal verkauft worden sein. „Nirvana hat die Ärsche von Poneman und Peters gerettet“, sagen Turner und Peters.
Die Karriere von Cobain & Co. war eigentlich Mudhoney prophezeit worden. Spex meinte sogar, Nirvana könnten „next year's Mudhoney“ werden – und sah damit immerhin noch klarer als die anderen. Wie fühlt es sich an, auf dem Seitenstreifen hängengeblieben zu sein? „Wir sind nicht reich und berühmt, aber wir sind ausreichend reich und berühmt. Das Coole an unserer Situation ist, daß wir beobachten konnten, wie einige unserer Freunde zu gigantischen Rockstars wurden, und die Schattenseiten mitbekamen. Massenhaft Geld ist natürlich nett, aber ich lauf lieber die Straße lang, ohne daß Menschen mit dem Finger auf mich zeigen.“
Die benutzen tatsächlich noch das Wort „cool“ – mein Gott, man darf das, wenn man Urgestein ist. An der Geschichte von Mudhoney ließe sich sogar ganz vorzüglich die Geschichte des Grunge, den es eigentlich ja niemals gegeben hat, nachzeichnen.
Es war einmal eine Band aus Seattle, die nannte sich Green River – nach dem Song von Creedence Clearwater Revival. Als Green River sich auflösten, entstand aus der einen Hälfte Mudhoney, aus der anderen auf Umwegen Pearl Jam, was sich im nachhinein wunderhübsch macht: Pearl Jam als gnadenlose Ernstnehmer der 70er Jahre, Mudhoney als Protagonisten des Punkrock-Weges. Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich auch das, was man als Grunge bezeichnen könnte, wenn es ihn denn gegeben hätte.
Aber offensichtlich hat die Welt nur darauf gewartet, die 70er guten Gewissens wieder ausbuddeln zu dürfen, und der arme Eddie Vedder traut sich jetzt nicht mehr auf die Straße, weil alle nur noch wissen wollen, wieviel schon von der letzten Pearl-Jam-Platte verkauft sind.
Der Ernstnehm-Weg, der Punkrock-Weg
Aber Mudhoney geht's auch so gut – gut genug, um die beste Platte seit langem zu machen.
Fast kehrt auf „My Brother The Cow“ die Brillanz der ersten Aufnahmen zurück, auch wenn der jugendliche Eskapismus inzwischen durch ein gut abgehangenes Losrocken ersetzt worden ist, das in seinen besten Momenten an die lässige Trägheit der Stooges erinnert.
Denen haben sie mit „1995“, das nicht nur im Titel an den Stooges- Klassiker „1969“ erinnert, ein Denkmal gesetzt. Aber vielleicht haben sie dabei auch ein wenig an Nirvanas Kurt Cobain gedacht und daran, was ihnen erspart geblieben ist: „It's 1995, alright / They say I'm lucky to be alive“. Doch wenn man sie fragt, ist es bloß ein „rhyming song“, sind sie ganz Rock'n'Roll und verwehren sich gegen alle Interpretationsversuche.
Mehr als das Auge trifft, gibt es diesmal tatsächlich nicht zu sehen: „Diese Platte ist einfach aus unseren Bäuchen gerade jetzt rausgeploppt. Wir denken nicht über unsere Vergangenheit oder Zukunft nach, wir gehen einfach mit dem Fluß. Was immer passiert, passiert eben. Wir haben keinen großen Masterplan. Wir hatten niemals einen, wir werden auch niemals einen haben. Manchmal wünschen wir uns, jemand würde uns einen geben.“ Und dabei lachen die beiden, weil sie es dem Leben wieder einmal gezeigt haben. Qietschfidel im Hier und Jetzt und unbeschadet Grunge überstanden, was will man mehr?
Vielleicht einen kleinen Hit noch — als Zugabe des Schicksals sozusagen? Mit „What Moves The Heart?“ wäre der sogar auf der neuen Platte, aber was wäre damit gewonnen? Die Zeit ist an Mudhoney vorbeigerauscht, da können ihre Platten noch so gut sein, selbst so gut wie die neue. Alltag ist wieder eingekehrt in Seattle, Grunge gibt es nicht mehr, und nicht nur deshalb, weil es ihn ja eigentlich nie gegeben hat.
Es gäbe noch so viel mehr zu erzählen: Über den Einfluß von Black Sabbath; über die Vorreiterschaft der Melvins, die nie (außer in allerletzter Zeit) so richtig gewürdigt wurde; über das arme Seattle, das überschwemmt wurde von Talentscouts der großen Plattenfirmen auf der Suche nach einem zweiten Wunder; über Bands, die extra in den unwirtlichen Nordwesten der USA zogen, um dort entdeckt zu werden; über die weltweite Hysterie, die ausgelöst wurde von einem kleinen Wörtchen und einem ganz schön großen Haufen verkaufter Platten. Allein, es fehlt der Platz. Und die Zeit.
Die Bildplatte läuft aus, der Kamin knistert schon lange nicht mehr.
Mudhoney: „My Brother The Cow“, Reprise / Warner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen