Die kulinarische Handschrift Diyarbakırs: Der Ochsenschwanz schmort schon
Substanzloses Weißbrot? Nicht im südosttürkischen Diyarbakır. Ein kleiner Rundgang mit ofenfrischem Fladenbrot, rotem Basilikum und gegrillter Leber.
Diyarbakır taz | Bäckereien sind in Diyarbakır weit mehr als nur Glutenschleudern. „Hier gibt es in nahezu jeder zweiten Straße einen Holzofenbäcker, der wohl in jeder europäischen Großstadt als ‚Artisanal Bakery‘ firmieren würde“, erzählt Serdil Demir, der in der Stadt im Südosten der Türkei ein kleines Restaurant betreibt. Menschen aus der Nachbarschaft können selbst vorbereitete Gerichte vor Ort backen lassen und zum Abendessen ofenfrisches Fladenbrot mitnehmen.
Auch in den meisten Lokalen der Stadt wird das Brot mehrfach stündlich zu Fuß oder mit dem Fahrrad angeliefert. Es hat nichts mit den geschmacks- und substanzlosen Weißbrotlaiben zu tun, die vielerorts in der Türkei der Standard sind. „Schon die Form erzählt eine Geschichte, anhand der man ablesen kann, aus welcher Gegend das Brot kommt“, sagt Serdil Demir, „ist es eher knusprig? Hat man einen fluffigen Mittelstreifen oder fingernagelgroße Einkerbungen? All das trägt die Handschrift der jeweiligen Bäckermeister.“
1,8 Millionen Menschen leben in Diyarbakır, das als die kulturelle Hauptstadt des kurdischen Bevölkerungsteils der Türkei gilt. 1.500 Kilometer von Istanbul entfernt, kennen viele die Stadt allerdings nur aus den Schlagzeilen, wenn beispielsweise über die Absetzung von Bürgermeister:innen der prokurdischen HDP berichtet wird. Große Touristenströme, sei es aus der Türkei oder aus dem Ausland, treibt es nicht in die basaltschwarze Altstadt, in der man an jeder Ecke historische Kirchen, Moscheen und Karawansereien findet.
Um Diyarbakırs historischen Kern zieht sich eine der längsten antiken Befestigungsanlagen der Welt. Im innenliegenden, nach der Mauer – auf türkisch „Sur“ – benannten Stadtteil kam es 2016 zu bewaffneten Kämpfen zwischen Milizen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der türkischen Armee, in deren Folge ein großer Teil des über die Jahrhunderte gewachsenen Gassengewirrs von der Regierung dem Erdboden gleichgemacht wurde. Zehntausende Einwohner:innen mussten ihren Heimatbezirk verlassen. Mittlerweile stehen dort Reihenhäuser aus der Betonretorte, und Franchise-Cafés bieten Heißgetränke mit dem Charme eines Einkaufszentrums an.
Assyrischer Hauswein in Basaltarkaden
Zum Glück trifft dies nur für einen Teil von Sur zu – in anderen Ecken kann man sich weiterhin verlaufen und dann plötzlich vor einem alten Herrenhaus mit begrüntem Innenhof wiederfinden, das zugleich ein Café ist. Orte wie das Iskender Paşa Konak oder das von einem Kollektiv geführte Sülüklü Han gleichen in den heißen Sommermonaten Oasen in der Wüste.
Dank ihrer Basaltarkaden kann man in den Höfen angenehm temperiert sitzen und hausgemachte Limonade aus Reyhan, einer lokalen roten Basilikumart, oder ein Glas assyrischen Hauswein trinken. In der ehemals multikonfessionellen Region hat die Weinbautradition die Jahrhunderte überlebt und wird von den wenigen noch verbliebenen Nachkommen der christlich-aramäischen Minderheit fortgeführt. In den alten Karawansereien bekommt man ein Glas Rotwein aus heimischen Rebsorten wie Boğazkere oder Öküzgözü für einen moderaten Preis.
Auch Serdil Demirs vor drei Jahren eröffnetes Lokal Ameditan befindet sich in Sur, unweit des ehemaligen Kampfgebiets und ausgestattet mit einer kulinarischen Mission: Dem viel gereisten Koch geht es darum, lokale Produkte mit internationalen Zubereitungsarten zu verbinden. „All unsere Lebensmittel beziehen wir von Läden innerhalb der Stadtmauer, das Gemüse wird in den Hevsel-Gärten angebaut, die auf dem Plateau vor Diyarbakır liegen“, sagt er.
„From nose to tail gehört in Diyarbakır seit jeher zur Esskultur“
Ein Dauerbrenner auf seiner Speisekarte sind Tacos, die er aus einer Mischung aus Weizenmehl und Tomaten- und Paprikapaste herstellt. Als Füllung gibt es süß-scharfes Hähnchen oder stundenlang geschmorten Ochsenschwanz, kurdisch: Boçik. „Der findet sich kaum noch auf Speisekarten“, erklärt Demir. Für einen Pastagang verwendet Demir heimischen Örgü-Käse, lässt ihn jedoch nicht reifen, sodass er an klassischen Mozzarella erinnert, dazu gibt es ein Pesto aus Diyarbakırs rotem Basilikum.
Jedes Lahmacun ist einzigartig
Mit kleinen Gerichten aus wenigen, dafür ausgesuchten Zutaten sticht das Ameditan aus der Masse hervor. Ob sich das rentiert? Aktuell setzt Demir auf Mundpropaganda und die wachsende Neugier der Leute. Demnächst möchte er auch kulinarische Touren durch die Stadt anbieten – und dabei natürlich auch die Bäckereien nicht zu kurz kommen lassen.
Neben Brot haben sich zahlreiche Holzöfen in Diyarbakır auf Lahmacun spezialisiert – einen dünnen Hefefladen, der mit einem Hackfleisch-Zwiebel-Gemisch bestrichen wird. Fragt man Serdil Demir nach seinem Lieblingslahmacun, winkt er ab – allein in Sur gäbe es mehr als zehn Orte, die ihm auf Anhieb einfielen. „Diyarbakırs Lahmacun-Öfen sind wie die eigenen Kinder, ich könnte da unmöglich ein bestimmtes Lokal hervorheben“, sagt er lachend.
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Heute ist ihm nach dem Lahmacun, das unweit der alten Hauptmoschee inmitten des Basars gebacken wird. Neben Schneidereien, Juwelieren und Gardinengeschäften fällt der kleine Laden erst auf den zweiten Blick ins Auge. Seine Besonderheit: Hier ist das Lahmacun fast papierdünn und dadurch sehr leicht und knusprig. Heiß aus dem Ofen, mit frischer Petersilie belegt und mit Zitronensaft beträufelt, ist es selbst im Sommer ein erfrischender Mittagssnack.
Auch über die alten Stadtmauern hinaus gibt es in Diyarbakır Kulinarisches zu entdecken. Im nach den traditionellen Ton- oder Kupfertöpfen benannten Lokal Çömlek im Stadtteil Ofis ist der Name Programm: Ab dem frühen Morgen stehen drei große Kessel auf dem Herd, der mit Holzkohlen beheizt wird. Ein Klassiker auf der Speisekarte ist Güveç, ein Schmorgericht aus Tomate, Paprika, Aubergine und Lamm, das hier über Stunden fast zur Paste konzentriert wird.
Rauchschwaden über den Gassen
Zur Mittagszeit kann man hier häufig lokalen Musikern zuhören: mal wird auf dem Saiteninstrument Saz gespielt, mal fangen Stammgäste einfach an, über Instrumentalversionen traditioneller Lieder zu singen.
Spätabends bilden sich über den Straßen in Ofis Rauchschwaden. Wenn es dunkel wird, isst man in Diyarbakır besonders gern gegrillte Leber. Die kommt vom Lamm, wird stets frisch in Gewürzen gewendet und am Spieß knapp über die Kohlen gehängt. Dazu gibt es kleine Beigaben im Überfluss: In Sumach marinierte Zwiebeln, große Blätter der heimischen Rucola-Variante, verkohlte brennendscharfe Paprikaschoten und nicht zuletzt Ezme, ein erfrischend-tomatiger Dip mit Isot-Chili.
Laut Demir kann man mit gegrillter Leber in Diyarbakır nicht viel falsch machen. Er entscheidet sich an diesem Abend aber für Milz und Kalbsbries: „‚From nose to tail‘, wie es gerade in vielen europäischen Restaurants Renaissance feiert, gehört in Diyarbakır seit jeher zur Esskultur“, sagt er augenzwinkernd.