■ Die hemmungslose Globalisierung zerstört Arbeitsplätze und fördert weltweit die Verelendung. Aber es gibt Gegenmittel: Höhere Steuern für die Konzerne, Stärkung der Europäischen Union. Ein Gespräch mit dem Publizisten Harald Schumann: Der Turbo-Kapitalismus überfordert alle
Hans Peter Martin und Harald Schumann, Redakteure beim „Spiegel“, haben ein Buch zu dem zentralen Thema der 90er verfaßt: „Die Globalisierungsfalle“, soeben bei Rowohlt erschienen. Die Prognose: Wenn die Macht der transnationalen Konzerne nicht radikal beschnitten wird, drohen die Staaten zu verarmen. Die Arbeit verschwindet, gute Jobs werden zum Privileg des oberen Fünftels der Gesellschaft, der Rest muß um seine Existenz bangen. Dem „Spiegel“ war die Kritik der beiden Redakteure zu radikal. Die Coverstory des Magazins zur Globalisierung in der letzten Woche schrieben andere Autoren. Eine Rezension des Buches erscheint morgen in der taz.
taz: Globalisierung vernichtet Jobs, mindert soziale Rechte und verändert gesellschaftliche Strukturen. Karl Marx hat dies schon 1853 anhand der indischen Baumwollproduktion beschrieben, die durch englische Importe zerstört wurde. Welche neue Qualität hat Globalisierung 1996?
Harald Schumann: Das Neue ist die Geschwindigkeit, die die Anpassungsmöglichkeiten der Gesellschaften überfordert. Ein Beispiel: Heute kann es passieren, daß man einen Beruf lernt, den es in fünf Jahren nicht mehr gibt. Das bringt eine gnadenlose Auslese mit sich. Volkswirtschaftlich ausgedrückt: Die Dequalifizierung findet viel schneller statt, als neue Qualifizierung aufgebaut werden kann. Der Turbo-Kapitalismus überfordert alle. Dazu kommt die Umverteilung. Staatlich regulierter Ausgleich verschwindet. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer.
Die andere Lesart der Globalisierung lautet: Es findet ein Reichtumstransfer zwischen Erster und Dritter Welt statt. In der „Dritten Welt“ entstehen, hier und dort, prosperierende Inseln, in der „Ersten Welt“ Slums. Unser Wohlstandsverlust nutzt den Armen des Südens. Gibt es also in diesem Prozeß auch ein egalitäres Moment?
Nein. Es gibt keine Umverteilung von Nord nach Süd. Wir profitieren von diesem Prozeß. Deutschland erwirtschaftet mit all den Ländern, die uns da scheinbar etwas wegnehmen, mit Ungarn, Malaysia, Mexiko und Indonesien, einen Überschuß. Das heißt, deutsche Unternehmen verdienen mehr Geld mit Exporten in diese Länder, als wir für Importe ausgeben. Das Kernproblem ist, daß das Mehr an Wohlstand, das dieser Handel bringt, extrem ungleich verteilt wird. Der Gewinn fließt fast ausschließlich in die Kassen von Unternehmern und Aktionären, weil die Globalisierung mit weniger staatlicher Regulierung und Umverteilung einhergeht.
Dazu kommt nun das Schwinden nationalstaatlicher Souveränität gegenüber den transnationalen Konzernen. So hat beispielsweise BMW 1988 in Deutschland noch 500 Millionen Mark Steuern bezahlt, 1995 nichts mehr. Die transnationalen Konzerne profitieren von Steuerleistungen, von der Bildung und Infrastruktur in der „Ersten Welt“, zahlen dort aber immer weniger Steuern.
Also etwa: „Nieder mit, weg mit“ ...?
Nein, es geht nicht um Überwindung des Kapitalismus, sondern um dessen Zähmung. Der wichtigste Punkt wäre, diese Steuerfreiheiten abzuschaffen. Der Staat müßte also die enormen Effizienzgewinne, die sich aus der weltweiten Arbeitsteilung ergeben, bei den Unternehmen abschöpfen. Das geht in Europa nur über eine starke, demokratisch legitimierte EU. 80 bis 90 Prozent der EU- Steuerflucht geht in Steueroasen, die von europäischen Regierungen zu verantworten sind, vor allem von Großbritannien.
Gleichzeitig ist neben Steuerflucht in den reichen Industrieländern die Besteuerung der Unternehmen in den letzten zehn Jahren ohnehin stetig gesunken. Warum? Nationaler Lobbyeinfluß? Oder Globalisierungsdruck?
Bei der Besteuerung von Kapitalgewinnen ist das in der Tat ein Zwang. Die USA haben damit begonnen, und kein Land kann ungestraft Kapitalgesellschaften über dem weltweiten Durchschnitt besteuern, weil man dann Investitionen verhindert. Aber es gibt andere Wege, zum Beispiel Luxussteuern. Es gibt eine Menge Konsumgüter, von Hochseeyachten bis zu großem Immobilienbesitz, die sich genau die Schicht leisten kann, die von der Globalisierung über die Maßen profitiert.
Solche Steuern sind kaum durchsetzbar. Warum nicht?
Individuelle Kapital- und Zinsgewinne zu schonen, beruht auf dem Glauben, daß man es den Besitzern nur leicht genug machen muß, dann werden sie schon investieren. Das funktioniert aber nicht. Wir haben seit Mitte der achtziger Jahre eine Steigerung der Unternehmensgewinne – ohne höhere Investitionenquote. Trotzdem bestimmen die Neoliberalen mit der gebetsmühlenhaften Wiederholung dieser Glaubenssätze die Debatte. Der Markt reguliere sich selbst, Politik sei eigentlich überflüssig. Den Staat braucht man in diesem Modell eigentlich nur als Polizei. Aber der Markt regelt sich nicht selbst – oder genauer: Er regelt sich nach dem Gesetz des Stärkeren. Das geht in Wohlstandsgesellschaften vielleicht zwanzig Jahre gut. Dann wird die Zahl jener, die sich vom Abstieg bedroht fühlen, so groß, daß das System instabil wird. Die Marktideologie bereitet der Neuen Rechten den Weg. Das kann man in ganz Westeuropa verfolgen.
Warum ist es derzeit so schwierig, der neoliberalen Ideologie etwas entgegenzusetzen?
Die europäische Sozialdemokratie leidet noch immer am Untergang der kommunistischen Gegenutopie. Sie hat sich diesen Schuh angezogen oder anziehen lassen. Denn die Erfindung der sozialdemokratischen Bändigung des Kapitalismus war ja eine Antwort auf den Kommunismus – und zwar eine sehr konstruktive. Der Sieg des alten Westens hat dem Marktglauben einen enormen Schub gegeben. Aber die Gegenbewegung kommt. Entweder von rechts oder von links. Oder von beiden Seiten gleichzeitig.
Das Problem ist aber auch strukturell. Das keynesianische Modell – also antizyklische staatliche Gegensteuerung in Krisen – ist im Kern angegriffen, weil die nationalen Ökonomien mit der Globalisierung im Kern angegriffen sind. Ist damit das traditionell sozialdemokratische Krisenbewältigungsmodell nur noch begrenzt tauglich?
Die Staatsverschuldung in den Neunzigern ist auch gerade ein Ergebnis der Globalisierung. Die Aufgaben des Staates steigen, weil die Anforderungen immer komplexer werden: siehe Gesundheitswesen oder Renten. Ein effizientes Bildungssystem ist heute zwanzigmal teurer als vor zwanzig Jahren. Umgekehrt können die Konzerne die Staaten im Zuge der weltweiten Integration viel effektiver als früher gegeneinander ausspielen. Schon jetzt kostet der europäische Subventionswettlauf die EU-Steuerzahler 300 bis 500 Milliarden DM im Jahr, weil die Staaten gegeneinander um die Investoren buhlen. Die Unternehmer bekommen ihre Fabriken de facto von den Steuerzahlern geschenkt.
Das keynesianische Modell ist trotzdem nicht per se tot. Es funktioniert nur nicht mehr in einzelnen Staaten, sondern in Europa nur im Verbund. Denn was auf den internationalen Märkten zählt, ist Größe. Das ist das Neue. Das kann man an den USA ablesen.
Die USA waren der Motor dieses Globalisierungsschubs ...
Nicht in dem Sinne, daß dort Pläne für die Welt ausgeheckt wurden. Aber die Debatte, die jetzt in Europa angekommen ist, wurde dort schon vor zehn Jahren geführt. In den USA haben die Marktutopisten gesiegt. Seitdem arbeiten alle US-Regierungen gezielt daran, die globale Integration so voranzutreiben, daß für US-Kapitalbesitzer am meisten abfällt. Die Regeln für die globalen Märkte werden derzeit in Washington geschrieben. Ein Beispiel: Seit über zwanzig Jahren existiert die Idee, die internationalen Finanzmärkte und dort vor allem den Devisenhandel durch eine einprozentige Umsatzsteuer zu dämpfen. Diese Idee, nach ihrem Erfinder, dem Ökonomen James Tobin, Tobin-Tax genannt, hat Washington rundheraus abgelehnt. Warum? Weil von dem völlig freien Fluß der Devisen in erster Linie die großen US-Banken profitieren. Die Tobin-Tax ist allerdings nur durchsetzbar, wenn die großen Industrieländer sie wollen. Wenn die USA sich sperren, passiert nichts.
Warum ist die Dämpfung der Währungsspekulation so wesentlich, um die Globalisierung besser in den Griff zu bekommen?
Es wäre dann möglich, die drei Währungsräume – den DM-Raum in Europa, Dollar in Amerika, Yen in Asien – tendenziell voneinander abzukoppeln. Und das wäre für die jeweiligen Ökonomien wichtig, weil die nationalen Notenbanken die Zinshöhe selbst steuern könnten, also der jeweiligen Konjunktur angemessen. Im Moment ist es so: Die USA boomen, Europa hat eine Rezession. Die US-Notenbank erhöht den Zins, um die Inflation nicht anzuheizen. Damit aber erhöht sich auch weltweit der Zins auf dem Kapitalmarkt. Das heißt, auch wenn Deutschland, wie 1994, mitten in der Rezession steckt, steigen hier die Zinsen. Wir sind abhängig vom US-Zins, das sagt auch die Bundesbank. Mit der Tobin-Tax würde sich ein Großteil der Spekulationen an den internationalen Finanzmärkten nicht lohnen. Und das würde die weltweite Abhängigkeit von den USA zumindest mildern.
Das wäre ein Schritt hin oder besser zurück zur Stärkung nationalstaatlicher Souveränität.
In Europa geht es nur auf europäischer Ebene. Derzeit herrscht in der EU aber die Tyrannei der D-Mark. In Europa diktiert die Bundesbank die Währungs- und Geldpolitik, und darunter leiden die anderen EU-Staaten.
Was die USA global tun, macht Deutschland in Europa ...
Das ist der Grund für die zwingende Notwendigkeit der gemeinsamen europäischen Währung. Der andere ist, daß zum Beispiel die Tobin-Steuer gegenüber den USA nur durchsetzbar ist, wenn Europa einen halbwegs vereinheitlichten Markt, eine gemeinsame Währung und Politik in die Waagschale wirft. Anders lassen sich die Spielregeln auf den Finanzmärkten nicht ändern.
Last Exit Europa. Aber in Deutschland ist von einem politischen europäischen Bürgerbewußtsein wenig zu spüren, die EU wird assoziiert mit Verwaltung ...
... schlechter Verwaltung.
Da sind wir wieder bei der Frage der Gegenkraft. Wenn für Europa nur die EU die Chance eröffnet, die Bedingungen der Globalisierung wirksam mitzubestimmen, fragt sich doch: Wer soll das durchsetzen?
Da kann man nur auf Aufklärung und die vorhandenen Kräfte setzen. In Italien haben die Sozialdemokraten die Wahl gewonnen, in Frankreich will die Mehrheit durchaus den Wohlfahrtsstaat verteidigen und nicht abschaffen wie in den USA und Großbritannien. In Skandinavien schließt das gesellschaftliche Selbstverständnis Gleichheit traditionell mit ein. Das Gleichheitspostulat von 1789 ist in Europa tief verwurzelt. Die Frage ist: Gelingt es diesen Parteien, sich rechtzeitig klarzumachen, daß sie auf nationaler Ebene nur noch verlieren können?
Das Problem ist ja nicht, daß Lafontaine und Kohl, der französische Finanzminister und die skandinavischen Regierungen den Sozialstaat zerstören wollen. Sondern, daß sie leugnen, daß die jetzige EU zutiefst undemokratisch ist – und für sie höchst bequem. Sie spielen in Brüssel den Gesetzgeber, obwohl sie eigentlich zur Exekutive gehören und umgehen so die lästigen demokratischen Prozeduren. Bislang begnügen sie sich zu sagen: Irgendwann werden wir auch mal Demokratie machen. Das wird schiefgehen, und zwar innerhalb der nächsten fünf Jahre. Europa kann nicht technokratisch glücken, sondern nur wenn es eine Demokratisierung von oben gibt.
Interview: Stefan Reinecke
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