: Die feuchte Gefahr
Sitten Treudeutsch „Gesundheit“ wünschen soll man ja schon lange nicht mehr, wenn jemand niest. Neu aber sind – Achtung! – generelle Sicherheitsbedenken gegenüber den nasalen Eruptionen
Menschliche Sitten im Wandel der Zeit, langweilig wird es einem da nie. Allseits bekannt und im Vorfeld des Luther-Jahres gern hervorgeholt ist die angebliche Lobpreisung menschlicher Eruptionen durch besagten Theologen: „Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es Euch nicht geschmacket?“. Solche Fragen würde heute kein Reformator mehr stellen. Der moderne Mensch ist angewiesen, seine Körperlichkeit zivilisiert im Zaum zu halten. Was auch für das Niesen gilt – lange her, dass man ein solches mit Hilfe von Niespulver sogar beförderte, des Genusses wegen.
Ähnlich verhält es sich mit dem in gutbürgerlichen deutschen Kreisen von jeher beliebten „Gesundheit!“, das man seinen erkälteten BürogenossInnen im Fall eines Niesers an den Kopf wirft – aus und vorbei. Macht man nicht mehr, schon seit über zehn Jahren nicht.
Der Grund: Dem kranken Gegenüber ausgerechnet „Gesundheit“ zu wünschen, könnte dieses zusätzlich kränken, nämlich emotional – und ganz im Gegenteil soll sich nun lieber der Niesende entschuldigen, weil er die anderen womöglich bei der Arbeit gestört hat. Die Etikette in Zeiten des globalen Neoliberalismus, sie oszilliert zwischen angeblicher Hyper-Rücksichtnahme auf die Gefühle des Einzelnen und knallhartem Effizienzbestreben.
Doch während man sich bei Kleinbürgers in Krähwinkel womöglich noch immer „Gesundheit“ wünscht, wird das Niesen längst unter ganz anderen Gesichtspunkten verhandelt, nämlich unter solchen, logisch, der Sicherheit. „Jedes Jahr rund 10.000 Unfälle durch Niesen“, so geistert es durch die Medien – und gerade im letzten Monat verursachte eine 21-jährige Autofahrerin in Baden-Württemberg „50.000 Euro Schaden nach Unfall“. Das Vorderrad ihres Fahrzeugs wurde komplett abgerissen, ein Ampelmast wurde überrollt – und das alles, weil der Mensch beim Niesen nun einmal zwanghaft die Augen schließt. Kontrollverlust, ein Wort, das in Zeiten von Big Data und Videoüberwachung keinen guten Beiklang hat.
Wie überhaupt die Gefahren des „explosionsartigen“ Niesens, das „Windgeschwindigkeiten in Orkanstärke“ erreichen kann, bislang unterschätzt wurden: So stellte die Rheinische Post Online dieser Tage die Frage, ob „häufiges Niesen hintereinander gefährlich“ ist. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Michael Deeg aus Freiburg konnte Entwarnung geben für Menschen, die generell gesund sind, warnte aber zugleich vor dem Zuhalten der Nase während des Niesens, da dies das Mittelohr schädigen könnte.
Aus der Welt geräumt wurde im gleichen Aufwasch die Legende, dass ein solches Zuhalten des Nasenlochs während des Niesvorgangs das Gehirn schädige. Schade eigentlich: Wieder ein Erklärungsansatz weniger für die derzeit merkwürdigen Vorgänge auf dem verschnupften Planeten Erde.
Martin Reichert
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