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Die etwas andere Geschichte

Esther Dischereit erzählt von den schweigsamen Nachfahren der Opfer und den desinteressierten Erben der Täter

Über den Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen bis in unsere Tage ist viel und doch immer noch zu wenig geschrieben worden. Diesem Eindruck werden sich auch belesene Aufarbeitungsexperten bei der Lektüre des neuesten Sammelbandes politisch-literarischer Essays der Schriftstellerin Esther Dischereit nicht entziehen können.

Dischereits Thema ist: die Unauslöschbarkeit des rassistischen Terrors aus der Erfahrung jener, deren Eltern von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, und die offenbare Gedanken-, Erinnerungs- und Empfindungslosigkeit jener, deren Eltern Täter, Mittäter oder Zuschauer dieses Terrors waren. Die besondere assoziative Denk- und Schreibtechnik der Autorin verwickelt die Leser in das Gespräch, das sie mit den Opfern des Terrors führt. Wer sich auf diese Gespräche einlässt, hat die Chance, neu zu hören und zu sehen. Die Essays des neuen Buches handeln zunächst von Martin Walser, Jörg Haider, von Jürgen Fuchs und F. C. Delius, von der Auseinandersetzung um die Entschädigung der Zwangsarbeiter, vom Schreiben selbst und vielen anderen Gegenständen. Mit der Aufzählung der Themen allein jedoch macht man sich keine rechte Vorstellung von ihrem Inhalt. Es handelt sich zwar um politische Überlegungen, jedoch nicht in einem eng verstandenen Sinne.

Jedes Thema scheint der Autorin gewissermaßen unter den Händen zu zerfließen. Wer erwartet in einem kritischen Essay über Martin Walser Bemerkungen über eine Schwester der Autorin, die sich außer Stande sieht, bei einem Seminar über Holocaust-Überlebende zu sprechen? Ihre Erinnerung an diese Zeit ist durch die Erfahrung bestimmt, eingeschlossen zu sein. Sie durfte – wollte sie nicht entdeckt und ermordet werden – damals nicht sprechen. In Reaktion auf dieses Trauma schließt sie sich heute immer wieder im Badezimmer ein, um nach einiger Zeit die beglückende Erfahrung zu machen, das Badezimmer selbst wieder öffnen zu können. Dischereit vergisst nicht hinzuzufügen, dass die Weigerung ihrer Schwester zu sprechen von den Organisatoren des Seminars so gedeutet wurde, als könne sie sich nicht erinnern.

Ob diese hier nur unvollkommen wiedergegebene Geschichte selbst fiktiv ist, bleibt unerheblich. Sie könnte wahr sein. Die Autorin versucht mit vielen solchen nur scheinbar banalen Beschreibungen, die Nachwirkungen der industriellen Vernichtung der europäischen Juden in den deutschen Nachkriegsgesellschaften sichtbar zu machen. Wer sich mit den Essays intensiv beschäftigt, wird feststellen, dass die zunächst überraschend erscheinenden assoziativen Erweiterungen der behandelten Hauptthemen notwendige Ergänzungen darstellen. Dischereit holt mit literarischen Mitteln Stimmen und Erfahrungen in die politische Auseinandersetzung zurück, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und gerade auch von den Kindern der Täter willkürlich übergangen werden.

Ihre Methode erläutert sie so: Gerade weil Walser „eine doch sehr private Geschichte öffentlich bekannt gab, nämlich die, wenn er wegsieht, erzähle ich ihm eine andere Geschichte, nämlich darüber, wie ich hinsehe, sogar dann, wenn meine Schwester im Badezimmer ist“. Mit ihrem neuen Essayband hat Esther Dischereit ihre Schreibtechnik, die in Wirklichkeit eine Methode der Sichtbarmachung öffentlich nicht thematisierter Erinnerungen ist, zu einem neuen Höhepunkt entwickelt. Manche der Essays sind bis ins Äußerste minimalisiert und haben Ähnlichkeiten nicht nur mit Gedichten.

Seit ihrem ersten Prosaband „Joemis Tisch“ (1988) arbeitet die Autorin, Tochter einer Überlebenden der Shoah, an ihrem Thema, der Widerentdeckung ihrer Jüdischkeit in der Gesellschaft der Täter und ihrer Erben. Essays, Gedichte, Prosa, Hörspiele und Ton-Wort-Klang-Improvisationen sind die verschiedenen Medien, mit denen Dischereit arbeitet. In dem jetzt erschienenen Band politisch-literarischer Essays scheint es fast, die verschiedenen Formen würden zusammenwachsen. Da die Texte zwischen Literatur und Politik changieren, lassen sich zentrale Motive, eindeutige Botschaften oder Anliegen von Esther Dischereit nur um den Preis mutwilliger Verkürzungen herausdestillieren. In diesem Sinne verkürzt gesagt: diesen Texten sollte sich der historisch oder politikwissenschaftlich interessierte Leser annähern, der etwas über den ganz persönlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus lernen will. Er kann hier etwas über Dinge, Gefühle, Abgründe und sich selbst erfahren, das wissenschaftliche Literatur kaum vermitteln kann. Eine Generation nach Primo Levi, Jorge Semprun und vielen anderen versucht Esther Dischereit als Überlebende der zweiten Generation über den Holocaust und seine Nachwirkungen bis heute zu sprechen. Ihr Programm hat sie kürzlich einmal formuliert: „Die Hauptsache ist, genau hinhören und hinsehen.“ MARTIN JANDER

Esther Dischereit: „Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten“, 170 Seiten, Ullstein Verlag, München 2001, 34 DM (17,38 €)Bereits erschienen: E. D.: „Übungen,jüdisch zu sein“, Suhrkamp 1998

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