Die eine Frage: Dann ist das mein Land
Es ist an der Zeit, sich die Hände schmutzig zu machen: Wessen Land ist Deutschland? Linker Patriotismus muss her.
Noch nie war die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel klassischen Linken so nahe, wie in jenem Moment, da sie in der Flüchtlingsdebatte ihren problematischsten Satz sprach: „... dann ist das nicht mein Land“.
Sie meinte: Wenn man nicht mal mehr Flüchtlingen helfen darf. So ähnlich haben Linksgrüne eine aus der deutschen Schuld entstandene „verquere Form negativer Identität“ (Harald Welzer) bis in das 21. Jahrhundert transportiert. Wenn das hier so ist, dann ohne mich. Wenn es hier noch Nazis gibt. Und Gartenzwerge. Wenn Heino singen und die Bild-Zeitung erscheinen darf. Wenn hier die CDU regiert. Und die CSU. Diese ganze Menschenverachtung. Also, nö. Oder vielmehr „pfui!“, wie die für Empörung zuständige Bundesgrüne in diesen Tagen twittert.
Wenn unsere (West-)Alten vom Krieg erzählen, von ihrem Krieg, dann kommt die Rede schnell auf den linksalternativen Tunix-Kongress 1978. Das Motto lautete: „Flüchten oder aushalten.“ Ab in die Toskana oder ab in die Nische. Weil: Deutschland ging ja gar nicht. Die meisten wurden dann Staatsbeamte. Den Widerspruch nahmen sie so tapfer hin wie die Pension. Selbstverständlich blieben sie in Opposition zu „diesem Staat“, wie man korrekt zu sagen hatte. Old Ströbele regte sich noch bei der WM 2006 über Deutschlandfahnen auf. Und Young Kipping warnte vor jeglicher Form des Patriotismus.
Und nun sind wir durch die Flüchtlingsdynamik an einem tatsächlich historischen Punkt angelangt. „Wir“ Links- und Ökobürgerliche können dieses Land bewusst zu unserem Land machen – und die EU gleich mit. Aber eben nicht gegen „die“ Rechts- und Wirtschaftsbürgerlichen. Sondern nur mit ihnen. Blöd. Doch es kommt noch härter. Die Neugestaltung muss unter den Bedingungen der Realität geschafft werden. Und da ist es leider so: Selbst wenn unser Land keine Grenzen mehr hätte, die Realität hat Grenzen.
Niederlage und Bestätigung
Robert Habeck, der Kandidat für die grüne Spitzenkandidatur 2017 – traut sich eigentlich sonst noch jemand? – hat ein wegweisendes Buch geschrieben, in dem er „linken Patriotismus“ als notwendige Grundlage für sozialökologische Veränderung definiert. Man muss seinem Gemeinwesen positiv verbunden sein, um für die Gesellschaft etwas hinzukriegen. Habeck schreibt auch: „Man kann nicht gleichzeitig anpacken und sich nicht die Hände schmutzig machen.“
Empathie ist ein unpolitisches Gefühl. Manche erkennen in den Flüchtlingen sich selbst. Manche sehen in ihnen das Fremde, das die eigene Gruppe bedroht, der wiederum ihre Empathie gilt. In der taz.am wochenende vom 19./20. September 2015 gehen wir der Frage nach, wie Mitgefühl funktioniert, was es bewirkt und ob daraus Politik werden kann. Außerdem: Selbstfahrende Autos sind gut für die Umwelt, drängeln nicht und sind nie betrunken. Retten sie die die Autoindustrie? Und: Christian Walliser betreibt mit seinem Mann Jan einen Raubtierhof im Schwarzwald. Das alles gibt's am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Grünen können recht behalten, weil sie manches tatsächlich schon vorher gewusst haben. Oder sie können ihre moraltheoretisch richtigen Positionen der eingetretenen Realität anpassen, weil es in dieser Wirklichkeit niemandem hilft, wenn sie sogenannte rote Linien einfrieren. Moral kann sich nur im Handeln vollziehen. Also in den Ländern und Kommunen, in denen Grüne wie Habeck, Kretschmann, Al-Wazir regieren. In der Realität, die dort geschaffen werden kann. Und geschafft werden kann.
Das ist in jedem Fall weniger, als wünschbar wäre. Der klassische Negativ-Linke müsste daher jegliches Erreichte als Niederlage und Bestätigung dafür einsortieren, dass das hier nichts werden kann. Erst recht nicht, wenn Grüne regieren.
Der linke Patriot aber wird daran arbeiten, den offenbar selbst Merkel ergreifenden Wunsch vieler Bürger nach einer Neujustierung von Eigeninteressen und Solidarität in gesellschaftlichen Fortschritt umzumünzen. Unter den Bedingungen der Realität, also einer Merkel-Gesellschaft, die von Errungenschaftskonservatismus geprägt ist, und zwar links wie rechts.
Die Formel lautet: So vielen wie möglich helfen, so viel wie möglich verändern. Dafür muss man anpacken. Und sich die Hände schmutzig machen. Let’s do it. Es ist unser Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid