Die bessere Rede der Bundeskanzlerin: "Das Geld reicht nicht mal für ne Pizza"
Merkels Neujahrsansprache ist traditionell voller Plattitüden und Schönmalerei. Darauf wollen wir dieses Jahr verzichten. Hier ist die Rede, die sie eigentlich halten sollte.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
lassen Sie mich ganz offen sein: Als ich vor einem Jahr hier saß und von meiner Unsicherheit aus dem vorletzten Jahr erzählte, hatte ich eigentlich gedacht, die Eurokrise sei überstanden. Deutschland stand gut da, und auch die Aussichten waren ordentlich.
Jetzt hat sich das ein wenig geändert. Immer mehr Staaten in Europa geraten in finanzielle Schwierigkeiten. Lassen Sie mich also wieder ganz offen sein: Selbst wenn ich unsere deutschen Interessen auch in Zukunft weiter so brachial in Europa durchsetze wie in diesem Jahr, wird es schwer, unseren Wohlstand zu halten. Gerade deshalb können Sie sich auf mich verlassen: Ich werde mich dafür einsetzen, dass Deutschland nicht zu viel an die anderen, manchmal auch etwas, tja, sagen wir - faulen - europäischen Urlaubsländer zahlen muss.
Gleichzeitig, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, darf natürlich niemand in Europa merken, dass wir unseren Wohlstand vor allem deshalb genießen, weil wir kräftig zollfrei in alle Nachbarstaaten exportieren können.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, für 2012 gilt deshalb: Lassen Sie uns weiter mit all unserer Kraft vor allem auf uns schauen. Und lassen Sie uns gemeinsam nicht mehr als nötig Gedanken an unsere Mitmenschen in Europa verschwenden!
Wir in der Bundesregierung machen das vor: Wir senken die Steuern. Nicht etwa, weil Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, etwas davon hätten, denn das gesparte Geld reicht mal gerade für eine kalte Pizza.
Nein, ich habe mit Ihnen gemeinsam an die FDP gedacht, denn unser Koalitionspartner hat sich das so gewünscht! Und jetzt, wo ich diesen Wunsch erfüllt habe, kann ich mit denen machen, was ich will - bis sie in der Versenkung verschwinden. Wie das halt so läuft mit meinen Koalitionspartnern.
Familienpolitisch steht Deutschland vor einem großen Einschnitt. Die Bundesregierung wird sich auch im kommenden Jahr um das Betreuungsgeld streiten. Natürlich ist mir bewusst, dass es sich dabei um großen Unfug handelt. Ich bitte Sie deshalb, mit mir zusammen stark zu sein. Denken Sie daran, dass wir gemeinsam auch schon die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels überstanden haben, obwohl auch das ordnungspolitisch schwer zu ertragen war.
Zugegeben: Dass jetzt selbst die Wirtschaftsverbände gegen das Betreuungsgeld protestieren, freut mich nicht. Denn es besteht natürlich immer die Gefahr, dass ich als prinzipienlose Pragmatikkanzlerin nach sechs Jahren Durchwursteln doch noch auffliege. Aber das Betreuungsgeld wollte nun mal die CSU, und für die gilt ansonsten das Gleiche wie für die FDP.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, lassen Sie mich am Ende eines turbulenten Jahres noch einige persönliche Worte an Sie richten: Ich bin ja eine Kanzlerin ohne Ecken und Kanten. Ich will auch ganz offen sagen, dass ich auch gar kein sonderlich politischer Mensch bin.
Ich sag mal: Wenn ich damals 1989 nicht zufällig als EDV-Administratorin beim Demokratischen Aufbruch reingelaufen wäre und die später eine Pressesprecherin gesucht hätten, würde ich heute wahrscheinlich immer noch in einem Labor in Meck-Pomm quantenchemische Zerfallsprozesse untersuchen. Dann müsste ich nicht immer solche staatstragenden Reden halten. Aber jetzt bin ich ihre Kanzlerin, und es macht mir Spaß.
Das wollte ich zum Jahresende einfach nur noch mal gesagt haben und Sie gleichzeitig von Herzen bitten: Ich hoffe, das reicht, damit Sie mich 2013 auch noch mal wiederwählen!
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien für 2012 Gesundheit, Kraft, Zufriedenheit und Gottes Segen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Gerichtsentscheidung zu Birkenstock
Streit um die Sandale