Die alten Wunden aus Klassenzimmer 111

Wie Schüler und Lehrer des Meißener Franziskaneum-Gymnasiums den Amoklauf von 1999 verarbeiteten und wie die Erfurter Tat auf sie wirkt

MEISSEN taz ■ Das Klassenzimmer 111 des Franziskaneum-Gymnasiums im sächsischen Meißen ist in warmem Ockerton frisch gestrichen worden, an den Fenstern hängen neue Gardinen. Nichts erinnert hier an den Mord an der Geschichtslehrerin Sigrun Leuteritz, der vor zweieinhalb Jahren die Öffentlichkeit ähnlich bewegte wie der Amoklauf in Erfurt. Nur Eingeweihte wissen, dass die Collage neben der Tafel bei der Aufarbeitung des Schocks entstanden ist. Vor blutrotem Himmel brandet eine aufgewühlte See gegen Felsen und bildet den Hintergrund für eine Sammlung etwas naiver Lebensregeln. Dort steht beispielsweise: „Drei Dinge musst du vermeiden: die Grausamkeit, die Überheblichkeit, die Undankbarkeit!“

Der Hass des damals 15-jährigen Schülers Andreas kannte keine Schranken und Regeln. Am 9. November 1999 kurz nach 8 Uhr kam er maskiert ins Klassenzimmer und stach mit einem Messer wortlos auf Sigrun Leuteritz ein. Die 44-jährige Lehrerin starb an den mehr als 20 Stichverletzungen. Der Täter flüchtete, machte aber bei seiner Festnahme drei Stunden später einen „ruhigen und gefassten Eindruck“, wie es im Polizeibericht heißt.

Noch heute gibt es Lehrer im Kollegium, die den Raum 111 nicht betreten können. „Wer sich hereintraut, der hat viel verarbeitet“, sagt Deutschlehrerin Margret Würzburg. Sie unterrichtet vorwiegend in diesem Raum. Im Gespräch war damals, ihn auf Dauer als einen Ort des Gedenkens einzurichten. Aber die Schüler selbst wünschten ausdrücklich kein „Museum“, wollten über die Weiternutzung als Klassenzimmer ein Stück Normalität einüben.

Erste Hilfe für die Seele

Nahe des Klassenzimmers erinnert eine in die Säule auf dem Flur eingelassene ovale Plakette aus Meißner Porzellan an das Verbrechen. Nur der Name der Toten und das Datum 9. November sind darauf vermerkt. Seit vergangenem Freitag steht auf dem Boden davor wieder eine große Osterkerze. Aufgestellt hat sie der Pfarrer Hans-Christoph Werneburg. Er hat unmittelbar nach der Tat die Schüler in Meißen betreut. „Erste Hilfe für die Seele“ nennt er das im Unterschied zur langfristigen psychologischen Betreuung.

Nach dem Erfurter Amoklauf brechen auch in Meißen langsam vernarbte Wunden wieder auf. „Wir sind ein Stück zurückgeworfen worden“, sagt Christoph Kutschker, der Schülersprecher: „Der Prozess der Traumabewältigung wird komplizierter werden.“

Das sagt auch der Marburger Psychologe Georg Pieper. Er ist Spezialist für „posttraumatische Belastungsstörungen“ und war unter anderem nach dem ICE-Unglück von Eschede im Einsatz. Zwei Jahre hat er das Franziskaneum betreut. Zum Beispiel half er vorsichtig, die „Schwellenangst“ zum Klassenraum zu überwinden. Seine Arbeit in Meißen ist offiziell beendet, aber noch am Tag des Erfurter Anschlages telefonierten Lehrer mit ihm. Derzeit wird Pieper in Erfurt gebraucht, aber bald will er zu Gesprächen nach Meißen zurückkehren.

Schulleiter Dietmar Liesch bat am Montagmorgen seine Kollegen, mit den Schülern über die Tat zu sprechen. Oder „mit ihnen zu schweigen oder Tränen zu vergießen“. Daraufhin entschied der Schulleiter, die Schüler der damals betroffenen neunten Klasse gegen Journalisten abzuschirmen. Die Reaktionen der Schüler anderer Klassen fallen unterschiedlich aus. Sie reichen von Wut über die Sorge um die Konzentrationsfähigkeit beim gerade laufenden Abitur bis hin zu Verdrängung, „damit der ganze Mist nicht wieder hochkommt“.

Erst mal ohne Klingelzeichen

Schüler und Lehrer erinnern sich gut an ein plötzliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Obgleich es jedem freigestellt war, erschienen am nächsten Tag alle in der Schule. Das Klingelzeichen wurde zunächst abgeschafft, die Lehrer wechselten nach eigenem Ermessen in der Reihenfolge der Fächer. Gesprochen wurde nicht nur über die Tat, sondern über „Gott und die Welt“, erinnert sich Deutschlehrerin Margret Würzburg. Als löste sich ein Problemstau, als rede man sich Unausgesprochenes endlich von der Seele. Was ist aus dieser Dialogkultur geworden? Es wurde damals erwogen, ob im Stundenkontingent der Lehrer nicht zusätzliche Stunden für Gespräche fest eingeplant werden. Aber daraus wurde dann doch nichts. So musste auch Würzburg Zeit vom normalen Unterricht abzweigen, um mit ihren Schülern über die Erfurter Tat zu diskutieren. Vor zweieinhalb Jahren haben sich Lehrer oft außerhalb der Schule mit ihren Schülern getroffen, auf der Parkbank oder im Eiscafé. „Laut Stundentafel ist die Zeit dafür nicht mehr da.“ Wo ein überforderter Schüler sich abkapselt, wo auch die Eltern keine Antenne mehr für ihn haben, könne ein engagierter Lehrer immer noch seine Freizeit opfern. Seine Freizeit eben.

Schülersprecher Kutschker sagt, am Franziskaneum hätten sie jetzt weniger Angst davor, dass sich die Gewalttat von 1999 wiederholt. Da ist eher die Angst vor der aufgefrischten Erinnerung. Auch Ines Schreiber, die den Geschichtsunterricht für die ermordete Lehrerin übernommen hat, verneint eine solche Angst. „Sonst wäre ich nach Erfurt nicht zum Unterricht erschienen.“

Und der Täter? Der bisherige Mitmensch und Mitschüler ist in dem Gymnasium zum unbegreifbaren Fremden geworden. Niemand hat den zu siebeneinhalb Jahren Jugendgefängnis verurteilten Andreas in Zeithain bislang besucht. Der anfängliche briefliche Kontakt riss bald ab. MICHAEL BARTSCH