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■ Die „Wormser Mißbrauchsverfahren“ brachten alle mit dem Thema befaßten Beratungsstellen in die Defensive„Wildwasser“ ist nicht gleich „Wildwasser“

Seit den Freisprüchen in den großen Wormser Prozessen um sexuellen Mißbrauch spüren „Wildwasser“ und andere Beratungsorganisationen einen gesellschaftlichen Gegenwind. Sie registrieren weniger Spenden, weniger Anrufe von ErzieherInnen, die einen möglichen Mißbrauch melden – und weniger Bereitschaft, Verfahren auch bei der Kripo anzuzeigen.

In der Beratungsstelle „Wildwasser Wiesbaden“ schlägt sich der Ausgang der „Wormser Verfahren“ in Statistiken nieder. Leiterin Rosemarie Steinhage: „Die Meldungen sind zum Teil drastisch zurückgegangen. Wir haben ein Viertel weniger Meldungen aus Hessen.“ Die gesunkenen Fallzahlen bedeuten jedoch nicht unbedingt, daß Mißbrauch jetzt seltener stattfindet. Ina Hinz von der Berliner Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ glaubt: „Gerade für ErzieherInnen und LehrerInnen ist das Thema wegen der spektakulären Prozesse jetzt oft zu heiß.“

Diese Verunsicherung ist auch bei den Müttern und jungen Mädchen zu spüren, die in die „Wildwasser“-Beratungsstelle nach Berlin kommen. Mitarbeiterin Eva- Maria Nicolai: „Viele von ihnen haben Angst, daß ihnen nicht mehr geglaubt wird.“ Wenn sie Vertrauenspersonen Mißbraucherlebnisse anvertrauten, reiche es oft nicht mehr, vom Vater „nur“ angefaßt worden zu sein, um glaubwürdig zu erscheinen. Dadurch würden Mädchen gezwungen, mehr „aufzudecken“, als sie erst einmal verkraften könnten.

Bundesweit gibt es unabhängig voneinander rund 30 „Wildwasser“-Beratungsstellen – mit völlig unterschiedliche Arbeitsweisen. Die Pionierinnenorganisation „Wildwasser Berlin“ wurde Mitte der achtziger Jahre aus den Reihen der Frauenbewegung gegründet, existierte erst einmal nur als Selbsthilfegruppe, eröffnete dann die erste Beratungsstelle mit einem parteilich-feministischen Ansatz. Der Kinderschutzdienst von „Wildwasser Worms“ ist nach eigenen Angaben kein „feministisch orientierter Fachdienst“, sondern arbeitet „kindzentriert mit Jungen und Mädchen“.

Rund 15 der feministisch arbeitenden Beratungsstellen haben sich mittlerweile zu einer Bundesarbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. „Wir schmoren nicht im eigenen Saft“, betont Eva-Maria Nicolai von „Wildwasser Berlin“. Jede dieser Beratungsstellen habe therapeutisch gut ausgebildete Mitarbeiterinnen. Supervision und regelmäßige Fortbildung seien ein „Muß“.

So arbeitet „Wildwasser Berlin“ auch mit der familienorientierten Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (KIZ) zusammen: „Wildwasser“ betreut betroffene Mütter, Mädchen und junge Frauen. KIZ- MitarbeiterInnen arbeiten – wenn möglich – mit den Tätern. Doch eine „Verdachtsabklärung“ macht „Wildwasser Berlin“ nur sehr selten. „Wenn eine Mutter eine Mißbrauchsvermutung äußert, dann sprechen wir erst einmal sehr ausführlich mit ihr“, sagt Eva-Maria Nicolai.

Das Kind werde dabei weitestgehend herausgehalten – um es zu schützen. In Sorgerechts- und Strafprozessen, in denen Mißbrauch eine Rolle spielt, werde ein externer neutraler Gutachter zur Abklärung herangezogen. Diesen sollten möglichst beide Elternteile akzeptieren.

Bei „Wildwasser Worms“ arbeitet seit zwei Jahren ein Team, aus dem niemand selbst in die „Wormser Verfahren“ involviert war. Die Mitarbeiterinnen bedauern heute, daß sie nur selten die Prozesse besucht haben und nicht mit den Medien in Kontakt getreten sind. Das zuständige Landesministerium habe sie darum „gebeten“, vor dem Urteil keine selbstkritischen Äußerungen zu machen. Rosemarie Steinhage (Wiesbaden) hat sich als einzige „Wildwasser“-Beraterin ein Bild vom Prozeß verschafft: „Wir bräuchten eine Bundessprecherin, die Prozesse besuchen und öffentlich für alle Erklärungen abgeben kann. Aber wir haben für solch einen Posten kein Geld. Jede Beratungsstelle kämpft um ihr Überleben.“

Nur eine Gruppe könnte von den Wormser Prozessen profitiert haben: die Täter. Jürgen Lemke, der im KIZ Tätertherapiegruppen betreut, meint, die Täter seien durch die Prozesse „sehr viel selbstbewußter geworden“. Ihr Motto scheint zu sein: In Worms wurde niemand verurteilt, also habe ich auch nichts gemacht. Julia Naumann

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