Die Winterbader Jeden Sonntag im Winter um 10 Uhr das gleiche Ritual: Am Orankesee in Hohenschönhausen ziehen sich Menschen nackt aus und gehen ins Wasser. Egal wie kalt es ist. Carola Geppert und Amelie Beyer gehören dazu – und finden: Nichts härtet besser ab: „Wenn dann der innere Schweinehund überwunden ist, fühlt man Stolz“
Interview Anne HAEming Foto Julia Baier
taz: Frau Geppert, laut Vorhersage sollte es heute schütten – es ist trocken bei 10 Grad, dafür gibt’s Sturm. Tolles Badewetter ist anders.
Carola Geppert: Das habe ich extra so bestellt. Damit der Wind den Regen vertreibt. Aber uns hält kein Wetter ab, auch kein Regen. Wir hoffen immer auf kaltes, trockenes Wetter.
Auf der Tafel, die hier hängt, steht, dass das Wasser im Orankesee heute 5,7 Grad hat. Ist das warm für die Jahreszeit?
Geppert: Nein, das kommt statistisch ungefähr hin. In den 16 Wochen von Beginn der Saison im Oktober bis Dezember sinkt die Temperatur jede Woche etwa um ein Grad. Das ist immer mein Argument, wenn jemand sagt: Ach, ich kann nicht ins kalte Wasser! Aber es ist ja jede Woche nur ein Grad weniger. Das kann man schaffen. Vor allem, wenn man sich vorher darauf vorbereitet.
Wie denn?
Geppert: Indem man kalt duscht. Ich mache das jeden Tag. Nach dem Säuberungsduschen dusche ich kalt: erst am rechten Bein hoch, dann links, ganz nach Kneipp. Das Wasser aus der Leitung hat sechs bis zehn Grad, wie wir jetzt hier. Ich bin das von Kindheit an gewohnt. Wir hatten keinen Boiler, mein Vater war ein Verfechter von kaltem Wasser.
Es ist Sonntagvormittag. Wie jede Woche im Herbst und Winter treffen Sie sich hier am Orankesee, um gemeinsam ins eiskalte Wasser zu gehen. Warum machen Sie das?
Geppert: Aus gesundheitlichen Gründen.
Wie kommt man darauf?
Geppert: Das war reiner Zufall. Ich war auf Malta und habe mit anderen Deutschen gejammert.
Gejammert?
Geppert: Über das warme Wasser in den Pools. Es gab Sturm, darum konnte man an der Steilküste nicht baden. Und die Pools waren so warm, dass wir alle gesagt haben: Igitt, das ist unangenehm. Da meinte jemand aus der Runde: Wenn du kaltes Wasser magst, dann komm doch mal sonntags zum Winterschwimmen an den Orankesee, du bist doch aus Berlin.
Und, wie war Ihr erstes Mal?
Geppert: Ich wollte nur mal gucken. Gerd Iden, der schon seit einem Jahr nach der Gründung der Seehunde 1980 dabei ist, sagte zu mir: Willste nicht reingehen? Ich hatte aber kein Handtuch dabei. Und er meinte daraufhin: Du kannst meinen Bademantel haben. Er hat ihn aufgemacht, drunter war er nackig. Und zum Entsetzen meines Mannes bin ich dann tatsächlich ins Wasser. Das war 1999.
Wieso eigentlich nackt? Liegt das nur an der Freikörperkultur, die in Ostdeutschland historisch gewachsen so angenehm selbstverständlich ist?
Geppert: Wir baden vor allem aus Gesundheitsgründen nackt. Es ist besser ohne die nassen Badesachen.
Und wie lange bist du dabei, Amelie?
Amelie Beyer: Seit zwei Jahren.
Wie kam’s?
Amelie: Ich bin immer in jeden See, egal wie kalt oder warm es war. Da hat meine Mutter gesagt: Du bist doch so eine Wasserratte, mach doch mal bei den Winterschwimmern mit. Da war es Oktober.
Geppert: Und zu unser aller Erstaunen ist sie mit ins Wasser – ihr Papa blieb draußen. Eine Saison später hat er aber gesagt: Na gut, ich mach mit. Seither ist er auch Mitglied.
Was gefällt dir denn so daran?
Amelie: Man geht rein, dann wieder raus, schwimmt ein bisschen – und dann wird einem schön warm. Das ist total toll. Wenn ich meinen Freunden davon erzähle, sagen sie immer: Das ist doch viel zu kalt.
Apropos kalt: Eisschwimmen, Winterbaden – was ist die korrekte Bezeichnung?
Geppert: Offiziell sind wir die Sparte 113 des Sportvereins Bergmann-Borsig. Da heißen wir „Winterschwimmer“. Aber wir bezeichnen uns als Winterbader. Weil wir ja eher baden als schwimmen.
Was genau tut man im Wasser?
Geppert: Die meisten gehen mehrmals für ein paar Minuten rein. Einmal, zweimal, dreimal, das entscheidet jeder selbst. Wir bezeichnen uns nicht als Extremsportler, wir wollen vor allem gesund leben. Langstreckenschwimmen in Kaltwasser und so, das ist nicht unser Anspruch. Wenn der See zugefroren ist, können wir sowieso nicht schwimmen. Wir können uns dann nur ein Eisloch von einer definierten Größe machen.
Mit welchen Gerätschaften machen Sie denn dieses Loch?
Geppert: Wir haben einen tollen Eisbohrer.
Und der liegt hier irgendwo rum?
Geppert: Ja, den haben wir hier deponiert, wir haben gute Werkzeuge, auch langstielige Eishacken. Wenn Eis ist, bohren einige unserer kräftigen Männer Löcher, dann wird rundum aufgehackt, so dass wir entweder einen Kreis oder ein großes Quadrat haben. Die losen Platten schieben wir unter die Eisdecke.
Die Jüngste: Amelie Beyer ist am Samstag vor dem Interview 13 Jahre alt geworden. Die Seehunde lassen sie vor dem Baden hochleben mit einem dreifachen „Eis frei! Eis frei! Eis frei!“, dem Schlachtruf des Vereins.
Eine der Ältesten: Carola Geppert (66) winterbadet seit 1999 bei den Seehunden. Zu ihrem Ritual gehört, nach der Runde im kalten See heißen Apfelsaft mit Zimt zu trinken. Das wärme am besten, findet sie.
Der Verein: Den Berliner Seehunde e. V. gibt es seit 1980. Treffpunkt ist jeden Sonntag, 10 Uhr, im Strandbad am Orankesee. Derzeit gehen 75 Sportfreunde im Alter von 13 bis 79 Jahren bei jedem Wetter baden.
Die Termine: Das Weihnachts- und Neujahrsbaden sind nicht öffentlich, da nackt gebadet wird. Die Öffentlichkeit ist am 9. Januar 2016 eingeladen, wenn das traditionelle Winterbadertreffen stattfindet, zu dem andere Eisschwimmer aus ganz Deutschland zu Besuch kommen. Dazu gehört, dass alle verkleidet ins Wasser gehen. Weitere Informationen: www.berliner-seehunde-orankesee.de. (ah)
Wie groß ist das Eisloch denn?
Geppert: Drei mal drei Meter ungefähr. Wie groß es sein darf, um noch sicher zu sein, legt die Wasserpolizei fest. Das hängt auch davon ab, wie dick das Eis ist. Wir steigen dann über die Leiter vom Steg aus ins Wasser. Man muss ja noch stehen können, weil das Loch zu klein ist, um darin zu schwimmen. Die meisten von uns gehen ein paar Mal im Kreis. Einige bleiben auch zwanzig Minuten hocken und unterhalten sich. Ich sage immer, die wollen ihre Kerntemperatur senken. Das ist auch bei der ärztlichen Studie gemessen worden, bei der die Seehunde mitgemacht haben: Der Körper kühlt auch innen weiter ab, wenn man länger im Wasser bleibt.
Verzeihung, aber: Wieso sollte man seine Kerntemperatur senken wollen?
Geppert: Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Die fühlen sich wohl damit, also machen sie es. Ich gehe lieber zwei- oder dreimal rein. Jeder bleibt so lange er möchte, da gibt es keine Mindestzeit.
Ein anderer der Seehunde kommt vorbei und sagt: „Darf ich kurz stören?“ Er reicht Carola Geppert ein Marmeladenglas: „Hier, habe ich dir mitgebracht.“
Was ist das denn Leckeres?
Geppert: Quittengelee. Wir sind wie eine große Familie. Wir unterstützen uns gegenseitig. Und wenn einer einen Garten hat, bringt er eben manchmal etwas mit. Wenn jemand krank ist, besuchen wir uns. Wir treffen uns auch im Sommer regelmäßig. Ehrlich, ich habe vorher nie gedacht, dass mich Vereinsleben interessiert. Aber hier, mit den Schwimmern, ist das wunderbar.
Es ist gleich zehn Uhr. Bevor wir uns ausziehen: Wie viele Schichten haben Sie gerade an?
Geppert: Ich habe unsere Winterschwimmerlogojacke an und darunter einen Anorak, T-Shirt und Hemdchen. Aber keine Leggings oder Strumpfhosen unter den Jeans.
Und du, Amelie?
Amelie: Nur eine richtig dicke Jacke, einen Pulli, ein T-Shirt, einen Schal und meine Wollmütze.
Sonst haben Sie nichts dabei?
Geppert: Doch, ein Handtuch oder einen Bademantel. Aber die Kälte entzieht ja Feuchtigkeit, so dass der Körper im Winter schnell trocken ist, sobald wir aus dem Wasser steigen. Aber etwas, um sich die Füße abzutrocknen, habe ich schon dabei. Bei Eis legen wir auch noch eine Matte aus, auf der wir besser stehen können.
Gibt es eine gute Taktik, um in den kalten See zu gehen?
Amelie: Einer hat mir mal geraten: Schau nicht auf die Wassertemperatur, sonst traust du dich nicht. Und dann richtig rein, also bis zu den Schultern. Das klappt immer.
Draußen fangen die Ersten an, sich aus ihren Winterklamotten zu schälen. Überall liegen kleine Kleidungshaufen ordentlich sortiert, so dass man sich nach dem Schwimmen schneller wieder anziehen kann. Also runter zum See, über den kalten Sand, rein ins Wasser. Manche schnappen kurz nach Luft, Carola Geppert merkt man nichts an, Amelie will noch eine Runde warten.
Sie tragen ja Schuhe!
Geppert: Ja, wir haben fast alle Neoprenschuhe an. Das hält warm und hat den Vorteil, dass man den Sand hinterher nicht an den Füßen hat. Und bei Eis kann man besser auf die Leiter steigen, weil das Wasser auf dem Metall anfriert.
Wir sind jetzt bis zu den Schultern im Wasser, es nimmt einem ein bisschen den Atem. Viele haben eine Mütze auf. Ist das wichtig?
Geppert: Ja, man muss den Kopf und das Gehirn warmhalten. Wir propagieren daher auch, nicht mit dem Kopf unter Wasser zu gehen. Da würde zu viel Wärme abgegeben. Der Kopf ist schließlich unser Steuerelement, das wäre gefährlich. Zudem haben wir hier keine Möglichkeit, hinterher die Haare zu trocknen.
Was, wenn was passiert?
Geppert: Zum Glück ist in all den Jahren noch nie was geschehen. Aber wir haben auch Ärzte unter unseren Mitgliedern, die immer da sind. Für den Notfall.
Wieso halten denn so viele ihre Hände übers Wasser?
Geppert: Über die Fingerspitzen wird die Wärme direkt aus dem Körper gezogen. Es ist also taktisch klüger, wenn man länger drin ist, die Hände aus dem Wasser zu halten. Und man kann sich so auch leichter wieder anziehen. Ich gehe jetzt mal kurz raus, quatsche ein bisschen mit den anderen, dann komme ich wieder rein.
Am Strand stehen ein paar Grüppchen in Bademänteln und plaudern, einige Nachzügler trudeln ein und gehen schnurstracks baden. Ein paar gehen gleich noch mal ins Wasser, nach zwanzig Minuten ist alles vorbei. Der Strand ist leer.
Jetzt zittere ich doch – aber da bin ich wohl die Einzige hier.
Amelie: Ich zittere nie. Nur meine Füße werden oft so kalt, dass sie sich ganz steif anfühlen.
Geppert: Ich zittere auch nie. Aber der Körper macht das ja mit Absicht. Die Bewegung wärmt, darum zittert man. Der Körper hilft sich eben bei Kälte.
Warum treffen sich die Seehunde denn ausgerechnet am Orankesee?
Geppert: Der wurde uns angeboten, als der Vereinsvorstand vor vielen Jahren mit den Bäderbetrieben verhandelt hat. Wir zahlen Pacht für unsere acht Monate Saison. Wir haben hier Toiletten und Strom – an einem freien See mit freiem Ufer hätten wir das nicht. Der Orankesee wurde vor zwei Jahren saniert und so sauber, dass wir Wasserpflanzen haben. Am Anfang der Saison stören die manchmal an den Füßen.
Würden Sie auch Winterbaden, wenn das Ganze im gekachelten Freibad stattfände?
Geppert: Ja, na klar. Aber uns ist das Naturerlebnis sehr wichtig. Ich gehe mit meinem Enkelsohn einmal die Woche ins Hallenbad – da ist es so laut und eng. Hier haben wir Sand, frische Luft, kaltes Wasser. Wenn ich irgendwo im Urlaub bin, dann suche ich mir auch immer einen See, egal wo, egal bei welchem Wetter.
Amelie: Ja, es ist viel schöner hier, die Luft ist toll, nicht wie im Schwimmbad.
Welche Zeit während des Winterbadens magst du am liebsten, Amelie?
Amelie: Den Januar. Wenn wir schon ein bisschen Eis hatten und man dann die Woche drauf merkt: Es ist schon wieder wärmer, es geht bergauf.
Sie machen das seit fünfzehn Jahren, Frau Geppert. Haben Sie sich verändert in der Zeit?
Geppert: Ja. Ich fühle mich vitaler, beweglicher. Wenn ich diese Sonntage hier, diesen körperlichen Reiz nicht habe, fehlt mir was. Alle freuen sich auf den September, wenn es endlich wieder losgeht.
Sie alle hier machen etwas, das viele andere sich nicht trauen. Wie wichtig ist das als Ansporn?
Amelie: Früher habe ich oft gezögert und gesagt: Ich mache es nicht. Jetzt weiß ich aber, dass ich etwas kann, was andere nicht schaffen. Wenn ich zum Beispiel beim Arzt bin und eine Spritze bekommen soll, denke ich mir: Du gehst jeden Sonntag hier in den See, dann schaffst du das jetzt auch. Oder am Trapez – ich mache Zirkusartistik –, tun manche Übungen und Figuren wirklich weh, aber ich denke ans Winterschwimmen, und dann überwinde ich mich. Das ist echt cool.
Und bei Ihnen, Frau Geppert?
Geppert: Meine ganze Stimmung hat sich deutlich verändert, seit ich das mache. Es gibt mir Aufschwung. Man fühlt sich stolz, dass man dann seinen inneren Schweinehund überwunden hat. Dass man trotz kalten Wassers oder Schnee reingeht. Und man sich sagt: Ich mach das, weil ich das will. Und nicht, weil jemand das von mir verlangt. Aus eigenem Antrieb. Das macht einen stark. Und zufrieden. Mit dieser Erfahrung kann man sich auch leichter zu unangenehmeren Sachen überwinden. Mir geht es nicht darum, etwas Exotisches zu machen.
Sondern?
Geppert: Ich will mich abhärten. Wenn ich im Büro niese und die Kollegen sagen: Warst wohl wieder im Eiswasser?, antworte ich: Ja, aber genau deswegen bin ich ja hier und nicht mit Fieber im Bett.
Amelie: Ich bin auch weniger krank. Wenn, dann habe ich mal drei Tage Husten, mehr nicht.
Es gibt ja Internationale Winterschwimmermeisterschaften …
Geppert: Genauer heißt es: Weltmeisterschaften im Winterschwimmen.
Sie haben auch schon teilgenommen. Wie läuft das ab?
Geppert: Da treffen sich interessierte Schwimmer aus den Ländern, in denen es kaltes Wasser gibt, also vor allem nordische Länder, baltische und russische Staaten, Chinesen, dazu viele Engländer und Deutsche. Und wir treten als deutsche Delegation auf. Es ist wie eine Wintersportmeisterschaft – nur dass eben nur Schwimmer teilnehmen, keine Skispringer oder Langläufer.
Was sind die Wettkämpfe? Wer am längsten drinbleibt?
Geppert: Ach, es geht nur ums Mitmachen. In Riga vor vier Jahren ist eine unserer Schwimmerinnen 450 Meter im kalten Wasser geschwommen. Und wenn ich sage kaltes Wasser, dann war das wirklich eisig.
Na, Amelie, auch mal Lust?
Amelie: Ja, vielleicht wenn ich ein bisschen älter bin und das schon länger gemacht habe, also besser abgehärtet bin.
Machen Sie wieder mit?
Geppert: Nee, diesmal nicht. Passt terminlich nicht. Da bin ich gerade in Südafrika. In warmem Wasser.
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