piwik no script img

Die WahrheitSchmetterling mit feinem Näschen

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (231): Im Gegensatz zu den Menschen sind Tiere wahre Sinnes- und Gefühlsakrobaten.

Der kleine Kohlweißling schnuppert sich durch die Welt Foto: imago

Der Zürcher Tierpsychologe und Zoodirektor Heini Hediger schrieb 1954 in seinen „Skizzen zu einer Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus“: „Bei Säugetieren besteht eine weitverbreitete und überraschend hoch entwickelte Fähigkeit, menschliche Ausdrucksweisen ganz allgemein aufs feinste zu interpretieren. Das Tier, und besonders vielleicht das Haustier, ist oft der bessere Beobachter und der präzisere Ausdrucksinterpret als der Mensch.“

Die amerikanische Nutztierexpertin Temple Grandin sagt Ähnliches – über die Sinneswahrnehmungen von Tieren: „Einige ihrer Sinnesorgane sind so viel feiner ausgebildet, dass wir fast taub bzw. blind dagegen wirken.“ Delphine würden sich im Ultraschallbereich verständigen und Elefanten im Infraschallbereich (mit einem „stillen Donner“). Einige Insekten können im ultravioletten Bereich des Lichts (UV-Strahlung) sehen, einige Schlangen im Infrarotbereich. „Was wir nur als Wärme empfinden, liefert der Schlange ein Bild von der Infrarot abstrahlenden Quelle. Sie haben dafür ein spezielles Organ, das Grubenorgan, mit dem sie Tiere in völliger Dunkelheit wahrnehmen können.“

Man benutzt nicht die Begriffe Ultra- und Infrageruch, um die Grenzen unseres Geruchssinns nach zwei Seiten hin zu definieren. Obwohl es etliche Menschen gibt, die weit über ein normales Maß hinaus Gerüche wahrnehmen können, ist der Geruchssinn unser schwächster Sinn. Schmetterlingsmännchen können die Lockpheromone von Weibchen kilometerweit riechen. Der Schriftsteller Dietmar Dath hat in seiner Science Fiction „Die Abschaffung der Arten“ (2010) ausgemalt, wie eine artenübergreifende Verständigung über Pheromone erfolgen könnte. Dazu dachte er sich eine willentliche Artenbildung aus, deren evolutionäre Abgrenzungen bereits mit Darwin fließend geworden waren.

Der Schall und das Licht werden physikalisch analysiert, der Geruch dagegen chemikalisch. An der Hochschule Hohenheim im Fachbereich Chemische Ökologie gelang es einem Mitarbeiter für den Schnellkäfer Feuerschmied und den Habichtskrautspinner den Geruch, die Pheromone, den ihre Weibchen verströmen, nachzubauen (zu synthetisieren) und damit erfolgreich Männchen anzulocken.

Ultra und Infra

Ein Forscher baute den Geruch der Weibchen nach und lockte damit Männchen an

Noch schwieriger wird es beim Ultrafühlen und Infrafühlen. Könnten diese beiden unüblichen Polbegriffe trotzdem nötig sein? Andere Polbezeichnungen machen mehr Sinn, etwa gefühllos und übersensibel – man sagt dazu aber auch ultrasensibel. Dann wäre der andere Pol vielleicht infragefühllos zu nennen. So etwas haben wir mit dem Gegensatzpaar Empathie (einfühlsam) und Ekpathie (einfühllos), nur dass Letzteres viel weiter verbreitet ist und deswegen kaum benutzt wird: Alle Experimente, bei denen Tiere leiden und sogar gefoltert werden, und das sind Millionen täglich in den Laboren, geschehen im Rahmen von ekpathischer Forschung, sonst könnten die Forscher es gar nicht aushalten, dass sie ihre Karriere auf dem Leiden von Tieren aufbauen. Der englische Psychoanalytiker Ronald D. Laing gibt allerdings zu bedenken (in „Die Stimme der Erfahrung“ 1989): „Für den Wissenschaftler ist nichts, was er tut, falsch, solange es nicht wissenschaftlich falsch ist.“

Gefühltes kann auch Berührtes sein. Man fühlt eine Berührung an der Schulter; man spürt eventuell aber auch, wenn jemand hinter einem geht. Da wird das Fühlen dann wahrscheinlich metaphysisch und man darf sich fragen: Ist das eine Art Ausstrahlung, die man spürt – eine nichtphysikalische Wärme? Dabei nutzen wir dann das Rudiment eines Grubenorgans. Vielleicht lässt sich auch eine nichtphysikalische Kälte spüren – auf der Haut etwa?

Tiere und Autisten sind Spezialisten, normale Menschen dagegen Generalisten, schreibt Temple Grandin, die selbst Autistin ist. Wie „vermutlich viele Tiere“, braucht sie sehr lange, bis sie sich „genügend Details“ gemerkt hat, „um eine komplexe Abfolge zu begreifen“. Sie nimmt an, dass das Bewusstsein von Tieren ebenso wie ihres „hauptsächlich von Bildern bevölkert wird.“ Wahrscheinlich aber auch von Gerüchen, „vielleicht rufen sich Tiere bewusst einen bestimmten Geruch, eine Berührung oder einen Geschmack ins Gedächtnis.“

An Spezialisierungen erwähnt Temple Grandin den Tastsinn von Rindern, den Geruchssinn von Hunden und den Sehsinn von Tauben. Als Beispiel für die mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit von Tieren erwähnt sie die Ausbildung von Blindenführhunden. Dabei reicht es nicht, ihnen die Gesetze etwa einer Straßenkreuzung, die es bei der Überquerung zu beachten gilt, beizubringen. Man muss sie mit ganz vielen Straßenkreuzungen vertraut machen, weil sie ihre Erfahrung im Gegensatz zu normalen Menschen, die auch noch durch das Lesen ständig darauf gedrillt werden, nicht so leicht verallgemeinern können.

Hörnchen und Häher

Diese Differenz können wir vielleicht noch nachvollziehen, nicht jedoch jene Wahrnehmung von Hunden, die geschult sind, Epileptikern bei ihren Anfällen zu helfen, und darüber hinaus gelernt haben, zu erkennen, wann ein Anfall bevorsteht und den Betreffenden daraufhin warnen. Oder die Fähigkeit von Eichhörnchen und Eichelhähern, sich Hunderte von Verstecken für ihre Nüsse und Eicheln zu merken – und das auch noch nach Monaten und im Winter, wenn Schnee liegt: eine präzise Detailwahrnehmung. So wie die der Zugvögel, die sich auf einem einzigen Flug eine lange und komplizierte Strecke merken beziehungsweise sich am Sternenhimmel oder an der Sonne orientieren, wie man annimmt.

Ähnlich extreme Wahrnehmungsfähigkeiten, die sie „winzige Unterschiede erkennen lassen“, haben auch Autisten; eine Gruppe arbeitet zum Beispiel in einer Textilfabrik, wo sie Marken-T-Shirts auf Webfehler kontrolliert: „Nicht-Autisten können diese kaum erkennen, die autistischen Angestellten erkennen sie jedoch auf den ersten Blick.“

Umgekehrt haben Autisten Schwierigkeiten, einen Baum auf einmal zu erfassen, weil sie ein Objekt nicht als Ganzes wahrnehmen. Die Autistin Donna Williams schreibt (in „Ich könnte verschwinden, wenn Du mich berührst“ 2003), dass sie eine Art Diashow sieht: auf dem ersten Dia einen Zweig, auf dem nächsten einige Blätter, dann vielleicht einen Vogel, dann wieder ein paar Blätter.

Mit den Worten von Temple Grandin: „Normale Menschen zeichnen keinen Hund, sie zeichnen das Konzept eines Hundes. Autisten zeichnen den Hund.“ Wenn sie von Autisten und Tieren redet, dann verallgemeinert Temple Grandin allerdings zu schnell. Wir sollten ihr das jedoch nachsehen, immerhin kommt sie mit ihrem „Savant-Syndrom“ der Lösung von ein paar Wahrnehmungsproblemen näher in ihrem Buch „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier“ (2006).

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!