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Die WahrheitAusgegraben und verkrustet

Nach dem jähen Erwachen aus einem grotesken Albtraum tritt im dunklen Garten der Gedanken ein Klangkörper der Hoffnungslosigkeit auf.

M it aller Kraft wusste ich nicht, was ich erleben sollte. An diesem Punkt hätte das Ende eintreten können, doch stattdessen waren es ein paar, genauer: vier Gestalten, die aussahen, als hätte sie jemand im Garten ausgegraben.

Weil es meine Art war, weder optisch noch akustisch richtig wahrzunehmen, dachte ich, sie stellten sich vor mit den Worten: „Wir sind Ihre Streichquartette.“ Es zeigte sich dann aber, dass die vier nicht behaupteten, die von mir komponierten Streichquartette zu sein, sondern vielmehr das Quartett-Ensemble, das angeblich meine Streichquartette uraufgeführt hatte.

Sich selbst bezeichneten sie als „Klangkörper der Hoffnungslosigkeit“. Mir war indessen nicht erinnerlich, jemals auch nur ein einziges Streichquartett komponiert zu haben. Ich konnte nicht einmal Noten lesen. Offenbar wussten meine Besucher mehr als ich.

„Führen Sie mich bitte behutsam an diesen Sachverhalt heran“, sagte ich zu ihnen, wobei ich Wert darauf legte, erlebnisfähig zu wirken. Meine Hoffnung war, das würde mir helfen herauszufinden, was ich erleben sollte. Die irden Verkrusteten forderten mich auf, ihnen zu folgen. Zweifellos wollten sie hinaus auf die Straße, doch da war ich schon gewesen und wollte denselben Fehler kein zweites Mal machen. Ohne sich zu rechtfertigen, versetzten sie mich über den Hüftschalter in Schlaf. Es war schrecklich.

Schrecklich war auch mein Erwachen in einer völlig fremden Umgebung. Ich fand mich in einer kargen, unbewohnten Gegend wieder. Als einzige Zeugnisse menschlicher Anwesenheit ragten im Abstand weniger Meter zwei große Tafeln aus der leeren Landschaft. Beide waren jeweils an den oberen Enden eines Paars hoher Holzpfosten befestigt. Auf der linken stand in etwas ungelenken Großbuchstaben „WAGEN“, auf der rechten „ABWAGEN“.

Was sind Abwagen?, rätselte ich. Der Begriff schien hierzulande gebräuchlich zu sein, denn dass jemand die Tafeln nur zum Scherz aufgestellt haben könnte, hielt ich für unwahrscheinlich. In Lagen wie meiner augenblicklichen versuchte ich stets instinktiv, den nächsten Bahnhof zu finden, um – wenn möglich – nach Hause zu fahren.

Allerdings war ich nie zuvor in einer derart verlassenen Gegend zu mir gekommen wie diesmal. Einen Bahnhof zu finden, schien hier gänzlich ausgeschlossen. Nächst dem Bedürfnis, nach Hause zu fahren, war mir der Gedanke „Ich muss Geld verdienen“ so natürlich wie das Atmen bei lebendigem Leibe.

Da, wo ich mich jetzt befand, war aber kein Geld zu verdienen. Also beschloss ich, so lange zu gehen, bis mir eine Verdienstmöglichkeit begegnete. Die Himmelsrichtung spielte beim Gehen keine Rolle, weil es ringsum bis zum Horizont gleich öde und leer aussah.

So erreichte ich den Ort Oberabwagen, wo ich nach einer schlechten Nacht überrraschend der Uraufführung und Rehabilitation meiner vier posthum komponierten Streichquartette beiwohnte.

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