Die Wahrheit: Bereinigtes Charaktersortiment
Vom Neoliberalismus lernen heißt bekanntlich konsumieren lernen. Und in allem eine Wertschätzung sehen! Wert, äh, Wort.
J unge, was du brauchst, ist eine Sortimentsbereinigung.“ Das sagte ich zu G., einem Nachbarn. Er wohnt im Haus gegenüber. Wir sehen uns fast täglich auf der Straße, grüßen uns und plaudern ab und zu. Obwohl ich ihm meinen Namen schon zigmal nannte, sagt er hartnäckig Ralf zu mir, wofür ich ihm irgendwann den Alfred-Nobel-Gedächtnisschwund-Preis verleihen werde.
Nun begegneten wir uns zufällig vor einer Bar, in die er gerade hineingehen wollte. Er raunte mir zu, eigentlich habe er dort Hausverbot. Ich: „Wieso?“ Er: „Ich war mit dem Service unzufrieden. Hab dann beim Chef Gin Tonic bestellt und vor lauter Ärger gesagt: mit zweieinhalb Eiswürfeln. Wenn du keinen halben hast, lass einen von deiner Servicefrau runterlutschen.“
Daraufhin sei er rausgeflogen. G. fügte an, übrigens hätte er super gefunden, was bei Rammstein backstage mit den Frauen abging. An dieser Stelle erwähnte ich das mit der Bereinigung. G. starrte mich an: „Wie meinst du das, Ralf?“
Sortimentsbereinigung – den Begriff habe ich vom Karstadt, wo ich ihn fett an einem Schaufenster kleben sah. Spitzenidee, dachte ich. Ließe sich gut auf uns Menschen übertragen. Alles, was einen ausmacht, kritisch prüfen. Und dann die Ladenhüter rauskegeln, all die peinlichen Auslaufmodelle im Charaktersortiment. Seitdem bemühe ich mich, den Begriff im Sprachgebrauch zu etablieren. Mein Vorbild ist der französische Schriftsteller Georges Perec, der für einen doppelten Espresso mit Schuss den Ausdruck „Matthiouze“ durchsetzen wollte, weil sein Kumpel Harry Matthews den Espresso immer so trank. Erfolg hatte Perec damit nicht. Dafür gelangen ihm alle seine Bücher, was ja auch nicht verkehrt ist.
Nur der Anfang
Die Sache mit der Sortimentsbereinigung ist für mich nur der Anfang. Wirtschaft unser, dein Wille geschehe. Wir können so viel von ihr übernehmen. Wie wäre es mit der Einführung von Feedback-Schleifen und Zielvereinbarungen im Freundeskreis? Etwa so: „Klara, wie du gestern beim Austernessen geschlürft hast, das gefiel mir gar nicht. Arbeite daran bis nächsten Samstag. Aber gutes Parfüm!“ Das könnte die Schluffigkeit und Stagnation aus so mancher Beziehung vertreiben, oder?
Vorbildlich auch, was in Supermärkten mit Lebensmitteln passiert, die fast abgelaufen sind. Es werden Sticker draufgeklebt: „Ich bin noch gut!“ Wer das Ende seines persönlichen Haltbarkeitsdatums nahen fühlt, aber noch mitmachen möchte im Spiel des Lebens, sollte sich einen solchen Sticker anheften auf die Jacke.
Wenn die Nachfrage ausbleibt: mit dem Preis runtergehen, zur Not auf Dumpingniveau. Beißt immer noch niemand an, bleibt nur eins: Im Büro der Geschäftsführung einen Blick in die Bilanz erhaschen. Steht drin, man ist komplett abgeschrieben, dann ist der Ofen aus. Da helfen keine Rechts- und auch keine Linksmittel. Von der Wirtschaft lernen heißt leben lernen.
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