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Die WahrheitWo bleibt die Zeitnotbremse?

Der Sommer war wie immer viel zu schnell vorbei. Wann löst die Menschheit endlich das Problem der ungleich vergehenden Augenblicke?

A us Versehen habe ich eben auf das Datum geschaut. Sofort fuhr mir der Schreck in die Glieder – da betuppt uns jemand, in ganz großem Stil!

Das darf nicht wahr sein, dass der Herbst schon wieder auf der Matte steht – und mich eine Fernsehwerbung in ihren Bann zieht, in der ein mittelalter, mittelgut aussehender Typ – also einer wie du und dich – beglückt einen Wandkalender anstarrt, auf dem jeder Tag Sonntag ist. Ich habe direkt vergessen, für welches Produkt geworben wird, doch den Traum vom ewigen Sonntag, vom nicht enden wollenden Wochenende, den werde ich nicht mehr los. Einmal nicht weggezappt!

Mit dem Wochenende ist es wie mit dem Sommer und den Ferien: Die drei machen mich noch ganz verrückt. Erst langes, langes Sehnen, und dann – paff – vorbei. Von Gerhard Gundermann, dem DDR-Liedermacher, 1998 im Alter von gerade mal 43 Jahren gestorben, stammt der Song „Weisstunoch“ mit der Zeile: „Weisstunoch, wir haben uns so nach diesem Sommer gesehnt, und nu isser fast vorbei.“ 2018 erschien ein Film über sein Leben, mit Alexander Scheer in der Hauptrolle. Ein Youtube-Video zeigt, wie Scheer „Weisstunoch“ singt: mit geschlossen Augen. Wie auch sonst. Beim Sehnen muss man die Augen geschlossen haben. Die Realität mit ihren alltäglichen Bildchen soll sich nicht ins Hirn hineingrätschen.

Hilfreich wäre es, es gäbe einen Verzögerungsmechanismus. Eine Art Zeitnotbremse. Alles Schöne und Freie soll sich ewig und drei Tage hinziehen. Alles Blöde soll vorbeihuschen. Und nicht andersherum, wie es die Regel ist. „Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit“, wusste schon Nietzsche.

Ich begreife nicht, warum es Hunderte mit Nobelpreisen dekorierte Menschen gibt, von denen niemand die Idee hat, eine solche Bremse zu entwickeln. Das kann doch nicht so schwierig sein, wenn man ein Super­brain ist. Aber auf solch eine naheliegende Erfindung, die die Menschheit ein riesiges Stück voranbringen oder doch eher gewinnbringend ausbremsen würde, kommen die Gehirnvirtuosen nicht. Nicht mal eine Notbremsennotlösung ist von ihnen zu erwarten. Jeder Werbefilmer ist da weiter.

Obwohl Nobelpreise um Menschenhälse gehängt werden, scheint es mit unserer Intelligenz nicht weit her zu sein. Kein Wunder. Erst erfinden wir das Konzept der Intelligenz und dann behaupten wir, das intelligenteste Lebewesen zu sein. Also für mich klingt das nicht gerade schlau. Doch zurück zur Notbremse.

Das Prinzip Zeitlupe könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen. „Griff einmal ziehen“ heißt: Im Zeitlupenmodus leben. Geht immer noch alles zu schnell vorbei, muss man zweimal ziehen. Superzeitlupe. Die Zeit dehnt sich, bis sie ächzt, bis sie kreischt und kriecht und irgendwann stillsteht. Hoffentlich an einem Sonntag. Weil die Zeitnotbremse ein sensibles Gerät ist, das leicht kaputtgeht, ist es wichtig, eine in Reserve zu haben. Die Zweitnotbremse.

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1 Kommentar

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  • Die Zweitnotbremse bleibt die Ausrede :



    Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung