Die Wahrheit: Der kabellose Salat
Am 1. Juli 2024 gab es den großen Kabelbruch. Nun müssen sich die Fernsehwilligen eigenständig um ihre Verträge kümmern. Mit internetten Folgen.
W ie ein Damoklesschwert hing dieses Datum über deutschen Mietern und Mieterinnen: Der 1. Juli 2024. Kabelbruch! Scheidung! Der Vermieter und ich, wir mussten uns trennen. Per Gesetz!
Was er bisher ungefragt getan hat, nämlich meinen Kabelanschluss stellen, gegen Geld selbstverständlich, sollte ich nun selbst übernehmen. Eigentlich kein Problem, ich liebe Freiheit. Aber ich hasse Entscheidungen. Ich folge normalerweise einfach meinem Gefühl. Die ist nett? Freundin! Der sieht gut aus? Bett!
Gefühl folgen ist einfach. Wenn man gefühllos ist, wird’s mit Entscheidungen schwierig. Mein Vermieter hatte sich seinerzeit, als er noch fürs ganze Haus bestimmen durfte, für die Firma entschieden, bei der ich immer orthografische Probleme habe. Oder orthographische?
Mangels Gefühl wollte ich nach der Scheidung bei der Firma bleiben. Der Düsseldorfer Kontaktmann der Firma mit f oder ph ignorierte aber alle meine Nachrichten, die ich ihm auf allen möglichen Kanälen zukommen ließ.
Ich begab mich also ins internette Land und forschte nach anderen Wegen. Schnell tauchte ein neuer Mann auf. Ein schlechter Sänger einer noch schlechteren Band aus den Achtzigerjahren war das krass geliftete Gesicht der Werbekampagne eines Münchener Unternehmens, das sich – angesichts der ungeklärten Weltsituation – einen chinesisch klingenden Namen gegeben hatte. Und es hatte ein cooles Sonderangebot parat. Nicht nur, dass das lange Kabel nun durch einen kurzen Stick ersetzt wurden, es kostete auch einmalig nur so viel wie mein Fitnessstudio im Monat. Dafür gab es ohne weiteres Abo eine Menge Sender umsonst. Wollte man noch mehr, musste man monetär allerdings was draufpacken. Mayo und Ketchup auf den Fritten gibt es ja auch nicht mehr für lau.
Das Gefühl war klar: nett! Her mit dem Stick aus Münchens Chinatown! Lieferzeit eine Woche. Kein Problem, mein Altfernseher und der Stick würden sich eh nicht verstehen. Ich musste ihn durch ein Smart-TV ersetzen. Die Kosten würden finanziell schon nach einem kabellosen Jahr wieder drin sein.
Smartie war zwei Tage später schon da. Ich steckte den Stecker in die Steckdose und verriet ihm das WLAN-Passwort. Auf der Stelle begann Smartie Geheimnisse mit dem Laptop auszutauschen. Smartie und mein Kühlschrank erzählten sich dreckige Witze. Kaum ebbte das Kichern ab, meldete sich die hörbar beleidigte Alexa und schlug einen flotten Dreier vor. Party in der Soloselbständigenwohnung!
Handy und Tablet luden sich selbst dazu ein, Netflix, Youtube und Spotify überschlugen sich mit Unterhaltungsangeboten. Es schien, als feierte eine Großfamilie ein lang geplantes Treffen. Ich machte mir noch kurz darüber Gedanken, was wohl alles noch passieren könnte, wenn der Stick eintraf. Aber dann … tanzte ich ausgelassen mit.
Demnächst werde ich übrigens heiraten. Es wird eine bayerisch-chinesische Hochzeit. Alexa wird Trauzeugin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!