Claudia Römer : Strawberry Gsälz forever
Es ist Juni! Tüchtige Geschäftsleute zaubern mit Erdbeerständen einen Hauch von Landleben in die Mainmetropole. Je mehr die roten Beeren reifen, desto stärker reift der Frankfurter Wunsch, diese einzukochen. Das machen die Städter gerne „etwas zu suppig“ oder „vielleicht zu fest“, wie sie nicht ohne Stolz bemerken, wenn sie einem ihr Eingemachtes überreichen.
Ich bin erfreut zu sehen, was die Nachbarn in dieser Saison alles so draufhaben. „Chilli-Strawberry-Gsälz“ steht in feinen Schnörkeln auf dem Glas von Jurastudent Jonas, ein Dank fürs Blumengießen. „Bei uns sagen wir Gsälz. Ihr Hochdeutschen dürft jetzt nach dem Brexit übrigens wieder ‚Marmelade‘ sagen. War seit 1979 EU-mäßig nur noch fürs englische Orangenzeug erlaubt“, erfahre ich von dem Stuttgarter. Wirklich? Das Wort Marmelade ist neun Jahre nach Auflösung der Beatles verboten worden? Cancel Culture für Erdbeeren und Konsorten? Wieso wusste ich nichts davon? „Habe noch ein Dutzend Strawberry-Gsälz im Keller safe. Sauber abgekocht hält das forever“, smilet der Schwabe noch. Sein Gsälzglas zeigt by the way kein Herstellungsjahr. Danke trotzdem und stelle es in meinen Kellerschrank.
Bald kommen neue hinzu. Fürs Briefkastenleeren schenkt mir Yoga-Lehrerin Frau Widmann eine „Kombi aus Erdbeeren mit zwanzig Prozent Rhabarber plus Pfefferminz. Vielleicht ein bisschen fest geworden“. Ihre Fruchtaufstriche sind vollkommen vegan, lerne ich. Gelierzucker basiert auf Pektin, „ist rein pflanzlich.“ Sehr gut. Auffällig jedoch, wie sehr auch Frau Widmann das gewisse Wort umgeht.
Wie ging eigentlich nochmal der Witz? Sagt ein Breitmaulfrosch „Konfitüre“? Nee, der Spitzmaulfrosch: „Marmelade!“ Darf man den überhaupt noch erzählen? Wenig überrascht stoße ich auf eine Mauer des Schweigens und der irritierten Blicke, als ich im Kreise sogenannter Freunde versuche, an die große Froschwitz-Ära zu erinnern. Die Mehrzahl gibt im Flüsterton an, nach dieser Zeit geboren zu sein.
Im Treppenhaus findet sich Gelegenheit, den englischen Nachbarn, einen Software-Spezialisten, in der M-Verbotsache zu befragen. „Jam? Gsälz? Sugar, always after my Workout. Magst du Strawberry Cake? On top Marmelade, besser als jeder Tortenguss! Habe ich noch from yesterday.“ Kuchen und Yesterday. Das können sie.
Ein schlaues Ablenkungsmanöver. Respekt. Doch was soll ich tun? So funktioniert die Großstadt nun einmal. Das Wortproblem wird in ihrem unerbittlichen Takt schnell wieder vergessen. Ein Stück Mürbeteig mit rotem Süßmatsch drauf, ein Energietee, und weg ist es. Die Beerenzeit dauert schließlich auch nicht ewig.
Nur unten im feuchten Keller schleckt sich der Breitmaulfrosch die Lippen und denkt: „Ich fand es immer ganz okay, Konfitüre oder Gsälz zu dieser uralten Marmelade hier zu sagen. Der Brexit spielt in dieser Hinsicht daher keine besondere Rolle für mich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen