Die Wahrheit: Deutsche Bahn für Pufferküsser
2040: Das Modell „CLAUS VI“ rollt! GDL-Chef Claus Weselsky hat den technischen Fortschritt maßgeblich vorangebracht und kann sich doch nicht freuen.
O Gott – sollen wir es wirklich wagen?! Aber jetzt ist es zu spät zum Aussteigen. Als der Zug mit einem kaum merklichen Ruck anfährt, ist unsere kleine Gruppe geladener Mobilitätshistoriker und Bahnfreunde unwiderruflich mit von der Partie. Heute wird erstmals ein selbstfahrender Zug der Deutschen Bahn die 350-Stundenkilomer-Marke „knacken“, wie wir Profis gern sagen. Die Vorstellung, dass da vorne in der Lok des Modells „CLAUS VI“ kein Mensch sitzt, lässt uns ein wenig frösteln. Die anwesenden Bahnmanager und Siemensleute hingegen sprechen bereits fröhlich dem Bier zu.
Das Bordbistro ist für die heutige Demonstrationsfahrt wiederbelebt worden. Allerdings ist das Fake leicht erkennbar: Es gibt ausreichend Personal, funktionierende Technik und sogar heißes Wasser für Tee. Verrückt! Ein älterer Lokomotivfreund schüttelt versonnen den Kopf. „So etwas habe ich zuletzt im Frühsommer 2007 erlebt, auf der Strecke München–Berlin. Danach nie wieder. Ach, waren das Zeiten!“
Wir nutzen die Chance und fragen den Pufferküsser, ob er sich noch an die letzten Unterbrechungen des Streiks erinnern kann. Er legt die Stirn in Falten. „Bahnfahrten? Mit Lokführer? Warten Sie, ich schau mal in mein Computer-Lokbuch. Ja, hier! Diese letzten Bahnen sind am 27. März 2027 gefahren. Ziemlich genau vor dreizehn Jahren. Das war der Tag, an dem Claus Weselsky von der Polizei zwangsweise zugeführt wurde in den Verhandlungsraum; das hatte ein Arbeitsgericht angeordnet. An dem Tag wurde der Streik letztmals unterbrochen. Tja, und den Rest kennen Sie ja …“
Wir nicken. Es ist eine tragische Geschichte. GDL-Chef Weselsky war 2024 eigentlich in Rente gegangen, doch sein Nachfolger erwies sich als Schwächling: Er brach einen auf sechs Wochen angesetzten Warnstreik nach fünf Wochen ab und ließ sich auf Verhandlungen ein. Daraufhin putschte Weselsky ihn weg und wurde sein eigener Nach-Nachfolger. Um nach der demütigenden Zwangsvorführung 2027 endlich für immer in den Ruhestand gehen zu können, regelte Weselsky sein Erbe schließlich so, dass die GDL den Dauerstreik ausrief. Es gab eine „endgültige Urabstimmung“, der sogenannte ewige Streik begann und Weselsky zog, zufrieden mit seinem Alterswerk, endgültig in ein Seniorenheim der GDL für verdiente Lokführer. Der Bahnverkehr steckte jedoch in der Sackgasse. Und genau das war der Anfang einer wundersamen Entwicklung.
Merkwürdiger Fortschritt
Der Fortschritt wählt manchmal merkwürdige Wege. Viagra wurde versehentlich auf der Suche nach einem Herzmittel entdeckt. Der Sekundenkleber war ein Zufallsergebnis der Suche nach einem Kunststoff für Zielfernrohre. Das Penicillin verdankt sich einer vergessenen Petrischale. Die Mikrowelle gibt es nur, weil der Schokoriegel eines Laborangestellten in seiner Hosentasche schmolz, als er vor einer Magnetröhre stand. Und die selbstfahrenden Züge gäbe es nicht ohne die GDL.
Im Gespräch mit Dr. Ansgar Aengenheyster, dem Chef der Deutschen Bahn, erfahren wir Näheres. Der Streik, das war damals klar, würde unabsehbar lange dauern. Die Oberleitung des Konzerns – Vorstand und Aufsichtsrat – wurde vollständig ausgetauscht gegen Leute, die ein echtes Interesse an einer funktionierenden Bahn hatten. Und dann wurden in einem riesigen Kraftakt sämtliche Bahnanlagen grundsaniert.
„Streckensperrungen waren ja verkraftbar, da sowieso fast nichts fuhr“, schmunzelt Dr. Aengenheyster etwas verlegen. Außerdem wurden alte Nebenstrecken wieder in Betrieb genommen und ganz neue Strecken gebaut. „Das waren intensive zehn Jahre“, sinniert der Modernisierer. Den Fernverkehr übernahmen übergangsweise selbstfahrende Elektrobusse, für die auf allen Autobahnen eine Spur reserviert wurde. Die Bauwirtschaft blühte auf und zog die Konjunktur nach oben.
„So muss es im 19. Jahrhundert gewesen sein, als ganz Deutschland mit Bahnstrecken versorgt wurde“, sagt „Doktor Bahn“, wie er von den Medien genannt wird, mit verklärtem Blick. Ein Kulturschock war die Veränderung des Bonussystems für Bahnvorstände. „Dass leistungsbezogene Boni jetzt erstmals von Leistungen abhingen, hat die Politik völlig durcheinandergebracht. So was kannten die gar nicht.“
Gemeinsame Bereicherung
Und der Durchbruch bei den selbstfahrenden Zügen? Hatte der auch mit dem ewigen Streik seit 2027 zu tun? Unser Gegenüber grinst. „Das hat das CLAUS-Programm natürlich noch mal beschleunigt. Aber die Forschungen liefen schon viel länger. Nach dem Streik von 2015 wurde ein psychologisches Profil von Claus Weselsky erstellt. Man wusste, dass die GDL sich immer weiter radikalisieren würde. Und unter uns: Auch für hartgesottene, zynische Manager der Selbstbedienungs-Kaste war es eine Zumutung, mit so jemandem zu verhandeln. Das waren ja irgendwie Überzeugungstäter. Mit denen ließ sich die gemeinsame Bereicherung nicht so geschmeidig organisieren, wie sie es bei VW hinkriegen zwischen Management und Betriebsrat. Also musste eine Lösung ohne Lokführer her. Blöd für die Leute, aber sie haben den Irren ja immer wieder zu ihrem Chef gewählt. Die eingesparten Lokführerehälter verwenden wir übrigens als Nulltarif für Arme.“
Aber wer kam eigentlich auf die Idee, die Modellreihe „CLAUS“ zu nennen? Nun, da war mal wieder der Zufall als größter Erfinder der Welt am Werk. Die Nerds bei Siemens nannten ihr Projekt „Computer-Led Automatic Units for Speedtrains“. Und sogar, als sie das mit „CLAUS“ abkürzten, hat niemand von ihnen bemerkt, wie lustig das war.
Claus Weselsky sollte übrigens kürzlich noch den Innovationspreis der deutschen Wirtschaft bekommen. Aber seine Bedingung für die Annahme war einfach zu bizarr: Er forderte eine Verkürzung seiner wöchentlichen Freigänge im Altersheim auf 35 Stunden bei vollem Medikamentenausgleich, beschimpfte die Altenpfleger als „Bahnmanager“, „Mafiosi“ und „Vorbrechor“, biss einen herbeigerufenen Polizisten ins Bein und klebte sich dann mit heißer Schlacke am Boden fest. Einfach nur tragisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen