Die Wahrheit: Lichtgestalt mit Gespräch im Gulag
Und noch eine Flugblatt-Affäre. Die Schmutzkampagne geht weiter. Diesmal trifft es Sahra Wagenknecht. Ein asymmetrisch gespiegelter Skandal.
Kaum ist die Aufregung halbwegs abgeflaut über Hubert Aiwanger und das antisemitische Flugblatt aus der Schulzeit des bayerischen Freie-Wähler-Vorsitzenden, das nicht er selbst, sondern sein Bruder Helmut verfasst haben will, da wird auch schon die nächste populistische Sau durchs deutsche Medien- und Politikdorf getrieben: Sahra Wagenknecht. Wie die Norddeutsche Zeitung am Wochenende berichtet, soll die ehemalige Lichtgestalt der Linken während ihrer Schulzeit auf der Erweiterten Oberschule (EOS) „Albert Einstein“ in Berlin-Marzahn in den achtziger Jahren ein stalinistisches Flugblatt verfasst haben.
Das Pamphlet ruft laut der Norddeutschen zur Teilnahme an einem angeblichen Spartakiade-Wettbewerb auf: „Wer ist der größte Verräter an der Sache?“ Teilnahmeberechtigt sei „jeder, der Internationalist ist und sich auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik aufhält“. Bewerber sollten sich „im sibirischen Gulag zu einem Vorstellungsgespräch“ melden.
Wagenknecht selbst ließ diese Darstellung von einem Sprecher entschieden zurückweisen; sie habe „so etwas nicht produziert“ und werde „gegen diese Schmutzkampagne im Falle einer Veröffentlichung juristische Schritte inklusive Schadenersatzforderungen“ ergreifen.
Nach massiver Kritik aus allen politischen Lagern präsentierte Wagenknecht dann eine schriftliche Erklärung: „Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend.“ Sie fügte hinzu: „Die Verfasserin des Papiers ist mir bekannt, sie wird sich selbst erklären.“ Wenig später kursierte das Geständnis einer vermeintlichen Wagenknecht-Schwester, die zugab, zu Schulzeiten vor mehr als 30 Jahren das Pamphlet verfasst zu haben.
Geheimnisvolle Schwester
Das plötzliche Auftauchen dieser Schwester sorgte allerdings für erhebliche Irritationen, weil Sahra Wagenknecht nach ihrer Geburt 1969 als Einzelkind bei ihren Großeltern in einem Dorf bei Jena aufwuchs. Schließlich gab sich Alice Schwarzer als Urheberin der Erklärung zu erkennen, die der „Schwester im Geiste zur Seite gesprungen“ sei, um sie „nicht im Regen der Männer stehen zu lassen“. Wichtiger als die Beschäftigung mit einer „Jugendsünde“ sei jetzt ein „Aufstand für den Frieden“ und „die Beendigung des Krieges in der Ukraine“, indem die deutschen Waffenlieferungen an Kiew sofort gestoppt würden, so Schwarzer. Stalin hin, Stalin her.
Als schließlich auch noch Oskar Lafontaine öffentlich seiner Ehefrau einen 25-Fragen-Katalog vorlegte, den sie zeitnah beantworten sollte, wurden die ersten Experten stutzig. Geht in diesem gespiegelten Skandal noch alles mit rechten beziehungsweise linken Dingen zu? Denn bislang war Sahra Wagenknecht während ihrer Zeit als Bundesabgeordnete der Linken statt mit klassischen Flugblättern eher mit hochtönenden Pressemitteilungen aufgefallen.
In ihren täglichen Kommuniqués zeichnete sie das düster komische Bild einer Scheinpolitwelt: „Zombie-Banken abwickeln statt künstlich beatmen.“ Der Begriff „Zombie“ ist eines ihrer Lieblingswörter: „Zombie-Banken-Union“ nannte sie ein ums andere Mal die EU in der Finanzkrise. Im Lauf der Zeit stieg sie immer tiefer in die Wortspielhölle hinab und ließ keinen schlechten Kalauer aus: „Merkeldämmerung in der Eurokrise.“ Denn wie bei Wagner-Opern sei alles nur schlechtes Theater: „Plan B für Zypern ist Schmierentheater.“ Das nur von den zockenden Zombies in Brüssel überboten wird: „Groteskes Pokern um Irland.“ Eine groteske Bild- und Wortwahl, von Stalinismus aber keine Spur.
Sahra Wagenknecht war nun nach eigener Aussage „erschrocken“, so die Antwort auf Frage 10 ihres Ehemanns Oskar: „Waren Sie überrascht, als Sie das Flugblatt erstmals gesehen haben? Wie haben Sie es damals bewertet?“ Dass Oskar Lafontaine seine Gattin im Fragenkatalog siezte, war nur ein weiterer mysteriöser Nebenwiderspruch der Affäre.
Die meisten Fragen aber konterte Wagenknecht mit einem trotzigen „Ich erinnere mich nicht“, was ihrem treuen Gatten offenbar ausreichte, denn er vergab ihr trotz der nicht besonders aufschlussreichen Antworten. Nach einer „Gesamtabwägung“ sei er, Oskar Lafontaine, zu dem Entschluss gekommen, dass eine Trennung „nicht verhältnismäßig“ sei, da es sich um eine 35 Jahre zurückliegende „Jugendsünde“ handele.
Gewiefte Strategin
Politische Beobachter in Berlin waren sich spätestens an diesem Punkt einig, dass der Skandal von der gewieften Strategin selbst und ihrem Umfeld am Reißbrett der Populistenschule entworfen worden war – mit den üblichen Ingredienzien: die historische Provokation, die erwartbare Entrüstung der Gegner, die Verkehrung der Argumente, die kämpferische Opferrolle, erhöhte Umfragewerte.
Nach dem Vorbild Aiwangers sollte die Flugblatt-Affäre, Teil II, dem Zweck dienen, Zuspruch für die Gründung der neuen Wagenknecht-Partei zu gewinnen – geplanter Name: „Die Aufsteher“. Was wohl bei der avisierten Klientel weniger gut ankommen wird, da ein Großteil doch eher dem Lager der Langschläfer und Liegenbleiber zuzurechnen sein dürfte.
Alice Schwarzer, Feministin
Dennoch versprach sich Wagenknecht – offensichtlich analog zum erwarteten Ergebnis der Freien Wähler bei der anstehenden Bayern-Wahl im Oktober – 25 Prozent der Wählerstimmen bei der Europa-Wahl im nächsten Jahr für „Die Aufsteher“, so die kühle Rechnung der Technokratin. Doch diese Rechnung könnte nicht aufgehen. Denn mittlerweile sind die bedauernswerten Deutschen, die wie immer als Letzte von internationalen Modewellen auch in der Politik überrollt werden, es leid, dass wie in anderen Staaten der westlichen Welt ihr Land innerlich in zwei Teile zerrissen wird. Das hatten die Deutschen schon einmal: zwei Diktaturen in einem Jahrhundert.
Nichts aber langweilt mehr als Wiederholungen. Und so ist Sahra Wagenknecht krachend gescheitert. Auch mit ihrer total durchsichtigen Kampagne führt für sie kein Weg zurück in die Deutsche Demokratische Demokratie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus