Die Wahrheit: Wartewut

Tagebuch einer Kloistin: Dunkelste Erinnerungen steigen im Innersten hoch, während die Blase in der Warteschlange vor der Toilette zu platzen droht.

Beim endlosen Warten vor dem einzigen Klo eines Cafés im Berliner Kollwitz-Kiez übermannte mich neulich ein Gefühl von Nostalgie. Während ich mir die Beine in den Bauch stand und draußen im sonnendurchfluteten Bullerbü die Cafébesucher vegane Spezialitäten genossen und ihre Babys bei Hafermilch-Latte stillten, verdüsterten sich meine Gedanken und wanderten in eine beunruhigend dunkle Richtung.

Nach einer Viertelstunde, mehrmaliger Betätigung der Türklinke und lauter Nachfrage war ich überzeugt, dass da drinnen hinter der Klotür irgendwas gründlich schieflief, und es war garantiert lebenbedrohlich, denn niemand würde einen Menschen, dem die Blase platzt, so lange warten lassen. Vor meinem inneren Auge erschienen unvergessliche Filmszenen aus meiner Jugend mit einem an Blähungen sterbenden Michel Piccoli und einem halbtoten Heroinopfer, dem die Nadel noch in der Vene steckte. Nix Bullerbü, stattdessen „Das große Fressen“ und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Aber vielleicht war noch Zeit, das Schlimmste zu verhindern!

Ich war kurz davor, den netten neuseeländischen Tresen­typen anzuflehen, die Tür einzutreten, als sie sich unvermittelt öffnete. „Sie können jetzt reingehen, ich muss nur noch Puder auftragen“, quäkte ein junges Geschöpf aus dem internationalen Influencer-Katalog in den Spiegel über dem Waschbecken, machte ein großzügige Geste Richtung Toilette und wedelte Puderstaub auf ihre von mehreren Lagen Foundation und Glow bereits radioaktiv strahlenden Wangen.

Schon in jungen Jahren hatte sich meine Begeisterung für mehr oder weniger öffentliche Bedürfniserleichterung in Grenzen gehalten; so war es nicht mein Ding, bei Freiluftkonzerten mangels ausreichenden WC-Angebots in Gesellschaft anderer Besucherinnen ungehemmt ins Gebüsch zu pinkeln. Die dünne Falttür, die mich jetzt vom Publikum trennte, machte die Sache nicht entspannter.

In Japan, dem Land, in dem sensible Seelen vor echten oder imaginierten Peinlichkeiten geschützt werden, kann man auf der Frauentoilette während der Verrichtung mittels Lautsprechertasten Meeresrauschen oder Spülgeräusche abspielen; meiner Klobesetzerin hätte ich lieber eine Anleitung zur Notdurft-Etikette vorgedröhnt. Erstes Gebot: Du sollst niemanden unnötig warten lassen!

Als ich endlich wieder draußen war, befand sich meine Klobekanntschaft in regem Austausch mit ihrem Influencerinnen-Klon, die das Resultat der Verschönerung in endlosen Posen ausgiebig fotografierte. Zwischen der gechillten Latte-Laptop-Kinderwagen-Boheme wirkten sie wie Barbies auf Urlaub in einer Käthe-Kruse-Welt, innen hohl und außen aus Plastik.

Wenn man sie anritzte, würde echtes Blut kommen? Ein hechelnder Minihund wurde als Requisit hin und her gereicht, halb erdrückt oder abgeküsst. Er wirkte gequält, wahrscheinlich musste er mal pinkeln. Ihm galt mein ganzes Mitgefühl.

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Lebt und arbeitet als Filmregisseurin, Drehbuch- und Romanautorin in Berlin. Schreibt in ihren Kolumnen über alles, was sie anregt, aufregt oder amüsiert

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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