Die Wahrheit: Der Bären menschliche Träume

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (176): Die Begegnung von Menschen mit Braunbären kann für beide Seiten tödlich enden.

Mensch im Bärenkostüm

Auf sehr sanfte Art und Weise werden Mensch und Bär eins in Berlin Foto: Stefan Boness/ipon

In seinem Buch „Der Himmlische Jäger“ (2020) schreibt Roberto Calasso: „In Kalifornien studierte der Paläoanthropologe Jean Clottes Malereien an einer Felswand, er hatte den Wächter des Ortes, einen Yokut-Indianer namens Hector, dabei. Clottes wies auf einen gemalten Schamanen mit Trommel. ‚Es ist ein Bär‘, korrigierte ihn Hector. Überrascht erwiderte der Wissenschaftler: ‚Ich hätte geglaubt, dass es sich um einen Menschen handelt‘. ‚Das ist dasselbe‘, sagte Hector.“

Ein estnischer Förster erwarb für zwei ungeduldige Jäger aus Deutschland einen Zirkusbären, der unterwegs, als man ihn den Deutschen vor die Flinte trieb, mit einem im Wald liegen gelassenen Fahrrad einer Blaubeersammlerin floh.

Auf der Tourismusmesse (ITB) trafen sich Tourismusmanager aus Osteuropa mit einem deutschen Jagdreiseveranstalter. Wladimir Kaminer erfuhr von ihnen: „Wir haben die Zählung der Braunbären abgeschlossen, 1.500 leben in unserem Gebiet“, erzählte ein Beamter aus Tomsk. „Davon brauchen wir höchstens ein Drittel, 1.000 Bären können also abgeschossen werden. Wir haben fähiges Personal, die den Bären in 24 Stunden ausstopfen, sodass der Tourist seinen Bären gleich mitnehmen kann.“ – „Sehr gut!“, sagte der Reiseunternehmer und notierte sich das.

Hierzulande gibt es seit der Exekution des Bären „Bruno“ in Bayern eine Bärendebatte. Die einen wollen Schutzparks für sie einrichten, andere fordern Bärenmanagementpläne, wieder andere wollen erst das Leben der Braunbären in seinen letzten eurasischen Verbreitungsgebieten erforschen lassen – und warnen vor schneller Wiedereinbürgerung des Raubtiers.

Bärenjagd per Computer

Einige Reiche begeistern sich unterdes für Bärenjagden per Computer. Der Ökologe Josef Reichholf schreibt in „Der Bär ist los“ (2007): Bei dieser Art von „Bearhunting“ „ist der ‚Schütze‘ mit einem echten Gewehr draußen in der Wildnis über das Internet verbunden und so am Bürostuhl in der Lage, tatsächlich den Bären zu schießen. Das Video dazu wird frei Haus geliefert, das Fell kann als Trophäe erworben werden. Peinlicher kann ein solcher ‚Sieg‘ über das große Tier nicht mehr werden.“

Auf Kamtschatka töten umgekehrt die dort lebenden großen Braunbären gelegentlich Touristen. 2014 hatte die junge französische Anthropologin Nastassja Martin auf der russischen Halbinsel eine Begegnung mit einem Kamtschatkabären, die ihr Leben veränderte: Sie war auf Kamtschatka auf eine kleine Gruppe von Ewenen gestoßen, die nach dem Zerfall ihrer Kolchose (wieder) in die Wälder gegangen waren, wo sie nun als nomadische Jäger, Sammler und Holzschnitzer lebten. Sie machten die Wissenschaftlerin mit dem (schamanistischen) Bärenglauben bekannt.

Nastassja Martin wurde von ihnen bald „matuscha“ (Bärin) genannt. Nachdem sie bei einer Wanderung eine blutige Begegnung mit einem Bären gehabt und überlebt hatte, war sie eine „miedka“ (vom Bären Gezeichnete) geworden: „Es bedeutet, dass deine Träume gleichzeitig auch seine sind“, sagten sie ihr.

Nastassja Martin schwebte nach der „Begegnung“ mit dem Bären in Lebensgefahr und wurde mit einem Hubschrauber zu einer Unfallstation gebracht, wo man sie notdürftig zusammennähte, dann wurde sie im Krankenhaus von Petropawlowsk operiert und schließlich in der Pariser Salpètrière noch einmal und noch einmal, wobei sie ein begehrtes Anschauungsobjekt für angehende Chirurgen wurde. Die Krankenschwestern nannten sie „Die Frau mit dem Bären“.

Kenner der Bärenprobleme

Auch nach den ganzen chirurgischen Eingriffen blieb ihr Gesicht zerstört. Die 29-Jährige war nicht mehr dieselbe; sie zog sich von Freunden und Kollegen zurück. „Ich habe das Bedürfnis, zu denen zurückzukehren, die sich mit Bärenproblemen auskennen, die in ihren Träumen noch mit ihnen reden; die wissen, dass nichts zufällig geschieht und dass Lebensbahnen sich immer aus ganz bestimmten Gründen kreuzen.“

Auf dem Flug von Kamtschatka nach Paris war Nastassja Martin bereits von einem Passagier auf ihre Verletzungen angesprochen worden. Sie habe mit einem Bären gekämpft, erwiderte sie nicht unstolz. Tatsächlich hatte auch sie den Bären dabei verletzt, mit einem Messer. Als Anthropologin fragt sie sich, ob sie nun „Halb Frau, halb Bär“ sei.

Der Ethnologe Rane Willerslev erfuhr bei den sibirischen Jukagiren, dass eine solche Verwandlung bei den Jägern als sehr gefährlich gilt, weil man dadurch das Verhaftetsein mit der Identität der eigenen Spezies verlieren und eine unbemerkte Metamorphose durchlaufen könne. Darüber grübelt die Autorin in ihrem Buch „An das Wilde glauben“ (2021). Sie weiß, dass sie wieder ein „Gleichgewicht“ braucht, „das ein Zusammenleben der Elemente aus divergierenden Welten erlaubt, und dass sie ihre aufgerissene „Insularität“ wiederherstellen muss. „Heute Morgen sagte ich mir, ich müsse vor allem mit dem Wollen aufhören.“

Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit über den „Animismus“ besteht aus ihrer Krankengeschichte. Aber das ist nur der Prolog, denn ihr Buch endet mit dem Satz: „Ich fange an zu schreiben.“ Der Lehrer von Nastassja Martin, Philippe Descola, der den „Animismus“ gewissermaßen rehabilitierte, hatte gemeint, „die Bären machen uns ein Geschenk“, dieser Satz beinhaltet für die Autorin den Gedanken, „dass ein Dialog mit den Tieren möglich ist“.

Ihre Romantik zielt auf eine Ökologie ohne Natur, wie der US-amerikanische Philosoph Timothy Morton sie nannte, auf eine Überwindung des Gegensatzes Kultur-Natur. Das ist nicht immer zu verbinden mit den Rekonstruktionen ihres Selbst nach ihrer „Verwüstung“. Jeden Abend versucht sie sich zu erinnern, was in den Wochen und Stunden vor dem Kampf mit dem Bären war, „die dem Kipppunkt meines Lebens vorausgegangen sind“.

Schmerzen nach Attacke

Im Pariser Krankenhaus soll sie ihre Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 einordnen. Aber sie denkt eher daran, dass sie all die „medizinischen Prüfungen durchmacht, weil es ein ‚Wir‘ gegeben hat“. Man gibt ihr Morphium. Die Operationen verlängern die Liste ihrer „in der Schlacht verlorenen Teile: Etwas Haut, meine Haare, drei Zähne, ein Stück Knochen und jetzt auch noch ein Lymphknoten.“ Wie soll sie sich da vervollständigen?

Bei ihrer Rückkehr nach Kamtschatka fragen ihre Freunde im Wald sie als Erstes: „Hast du dem Bären vergeben?“ Ja, sagt sie. „Er wollte dich nicht töten, er wollte dich zeichnen.“ Sie erinnert sich an ein langes Gespräch in der Jurte: „Wir redeten über die Geister der Tiere, über die, die uns auserwählen, noch bevor wir ihnen begegnen.“

Die russische Fotografin Olga Barantseva ließ 2021 für ein „Statement gegen die Bärenjagd“ einen Zirkusbraunbären im Wald mit einigen wenig bekleideten Mädchen posieren: Er umfasste sie sanft und küsste sie. Eines der jungen Models meinte anschließend: „Von ihm umarmt zu werden und ihn mein Gesicht und meine Hände ablecken zu lassen, war eine ganz besondere Erfahrung.“

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