Die Wahrheit: O du Wunderkind der Justiz!
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (5): Eine Ode an ein ganz frisches Frankfurter Genie des Rechts mit einem erstaunlichen Werdegang.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, Justin Lieber sei ein ganz normaler Junge. Dann tobt der Neunjährige mit Freunden über den Bolzplatz, er liest in „Was ist was“-Büchern – besonders gern über Wale und Delfine – oder er spielt mit seinen geliebten Marvel-Actionfiguren. Dabei ist er selbst ein Superheld, ein Wunderkind, eines, das in einem Atemzug mit dem Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart oder dem Schachweltmeister Bobby Fischer genannt werden muss.
Justin Lieber ist der Jungstar der Justiz, der leuchtende Stern des Wirtschaftsstrafrechts. Er war es, der jüngst dem früheren Audi-Chef Rupert Stadler im Betrugsprozess um manipulierte Abgaswerte zu einem Geständnis riet – und damit den Deal mit der Staatsanwaltschaft einfädelte. So hat er Stadler eine Bewährungsstrafe eingehandelt.
„Jemanden wie Justin Lieber hat die Welt noch nicht gesehen, sein Rechtsverständnis ist herausragend“, lobt Stadler seinen Anwalt. „Am Klavier, am Schachbrett oder am Rechenschieber, ja, da hat es schon oft junge Genies gegeben. Aber im Gerichtssaal? Das ist absolut einzigartig, wirklich ein Wunder“, sagt Verfassungsrichter Peter Müller. Justin Lieber werde gar bereits als möglicher Karlsruhe-Kandidat gehandelt.
Dabei ist Lieber in einfachen Verhältnissen in einem Frankfurter Brennpunkt aufgewachsen. Der Vater arbeitet nachts in einer Bäckerei, die Mutter ist Drogerieverkäuferin. „Seine Umgebung hat ihn wohl geprägt, der Justin hatte schon immer ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit“, sagt sein Vater. „Mit drei Jahren hat er sich das Strafgesetzbuch zum Geburtstag gewünscht, einfach so.“
Ein Kilo Paragrafen
Seine Mutter lacht. „Das Ding wiegt über ein Kilo, das konnte er kaum selbst halten.“ Abends habe sie ihm immer daraus vorlesen müssen. „Dann hat er gerufen: ‚Noch mal! Noch mal Paragraf 283b!‘ Und wenn ich etwas falsch vorgelesen habe, hat er mich sofort verbessert: ‚Nein, Mama, das muss heißen: Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei – nicht drei – Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer Handelsbücher, zu deren Führung er gesetzlich verpflichtet ist, zu führen unterlässt oder so führt oder verändert, dass die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird‘!“ Der Vater lacht: „Ja, ja, so isser, unser Justin.“
Seine Karriere liest sich beeindruckend. Mit sechs Jahren schließt er das Jurastudium ab, absolviert binnen kürzester Zeit seine Referendariats-Ausbildung, arbeitet zudem als wissenschaftlicher Berater am Lehrstuhl für Wirtschaftsstrafrecht der Frankfurter Goethe-Universität. Seit 2021 ist er als Fach-anwalt qualifiziert. Der Neunjährige vertritt Betroffene in großen Verfahren, etwa in Cum-Ex-Prozessen oder im Frankfurter S+K-Betrugsprozess.
Vergangenes Jahr gründet er seine eigene Kanzlei, „Lieber, Besser & Partner“, in einer noblen Altbauvilla, mittlerweile arbeiten dort vier Angestellte. Er hat einen Lehrauftrag an der Humboldt-Universität in Berlin und hält Vorlesungen. „Mir gefällt die Diskussion mit den Studierenden“, sagt Lieber, „die sind noch so schön enthusiastisch.“
Auf die Frage, ob er nicht doch etwas jung für das alles sei, rückt er seine silber-blau gestreifte Krawatte zurecht und antwortet gelassen: „Wenn ein namhafter Angeklagter sich einen namhaften Anwalt nimmt, denkt man doch zwangsläufig: ‚Der hat Dreck am Stecken, wenn er so ein schweres Geschütz auffahren muss.‘ Da nimmt man jemanden wie mich, den man erst mal unterschätzt.“ Lieber fährt sich durch die akkurat geschnittenen blonden Haare und grinst: „Aber man sollte mich nicht unterschätzen.“
Und woher kommt seine Liebe zu Recht und Gesetz? „Das hat sicher mit unserem Viertel zu tun. Dort wohnen auch die ‚schweren Jungs‘, die sich nur einen Pflichtverteidiger leisten könnten. Die fanden mich cool. Ich hab sie vertreten, bei Raub, Totschlag, BTM. So habe ich wertvolle Erfahrungen in unzähligen Verteidigungen gemacht und ein gutes Gefühl für Mandanten in Krisensituationen entwickelt. Man ist aber in Wirtschaftsstrafsachen nur dann wirklich gut, wenn man mal das Stahlbad eines Schwurgerichtsprozesses durchgemacht hat.“
Verfilmung der Lebensgeschichte
Allmählich werden auch andere auf Lieber aufmerksam. Der Erfolgsschriftsteller Ferdinand von Schirach will ihn als Co-Autor für sein neues Buch gewinnen, und Produzent Oliver Berben plant, Liebers Lebensgeschichte zu verfilmen. Laut Berben wird in der Hauptrolle bereits Florian David Fitz gehandelt, den könne man „gut auf jung schminken“.
Aber das Wunderkindleben hat auch seine Schattenseiten, zum Toben auf dem Bolzplatz kommt Lieber immer seltener, und die Marvel-Figuren verstauben im Kinderzimmer. Fehlt es ihm nicht, das ganz normale Kleiner-Junge-Sein?
Justin Lieber schüttelt energisch den kleinen Kopf. „Nein! Ein Leben ohne Paragrafen ist für mich absolut nicht vorstellbar, das ist meine Bestimmung.“ Und die Eltern sind stolz auf ihren Sohn. Sein Vater lächelt: „Außerdem ist es immer gut, jemanden in der Familie zu haben, der einem im Zweifel aus allem raushaut.“
Der nächste spektakuläre Prozess wartet schon auf Lieber, diesmal wird es sogar international. Popsängerin Shakira, angeklagt wegen millionenfacher Steuerhinterziehung, will ihn unbedingt als Anwalt. Für ein Wunderkind kein Problem: Nebenbei lernt er gerade Spanisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ministerpräsident in Thüringen gewählt
Mario Voigt schafft es im ersten Versuch
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“