Die Wahrheit: Rückblick auf Rücktritt
Was du dir in der Kindheit antrainiert hast, wirst du dein Leben lang nicht mehr los. Beim Fahrradfahren und beim Schimpfwörterausstoß.
Zig mal schon war ich voll Stoff auf das Drängelgitter zugebrettert, um erst kurz vor der Schranke das Tempo so weit zu drosseln, dass ich, ohne zu viel Zeit zu verlieren oder gar vom Rad steigen zu müssen, einigermaßen zügig durch die enge Umlaufsperre kam.
So auch dieses Mal. Ich muss elf, zwölf Jahre alt gewesen sein, kam vom Bolzen oder was und musste wohl dringend home, Schullas machen. Voll Speed ging’s über die leicht abschüssige Zufahrt und mit Karacho auf den Fußweg, nur wenige Meter noch bis zum letztmöglichen Bremspunkt vor den Gleisen. Schon war ich bereit zur reifenquietschenden Bremsung, doch denkste: Der Rücktritt ging ins Leere. Mit unvermindertem Tempo raste ich weiter und direkt auf das Metallgitter zu, weil, ist klar: Die Kette war abgesprungen.
Da kann man noch so oft nach hinten treten. Wie bitte, die Handbremse? Ach was! Deren Hebel hing wie eh und je nur schlapp am gerissenen und um den Lenker gewickelten Zug. Nein, nichts bremste mehr mein Fahrrad, und so würde ich wohl gleich volles Rohr ins Metall krachen … als im wirklich allerletzten Moment die Kette das Hinterrad blockierte. Puh! Noch mal Schwein gehabt.
Fahrräder ohne Rücktritt gab es in meiner Jugend praktisch keine. Ab meinen ersten Radfahrten war mir deshalb klar: Musst du bremsen, trittst du nach hinten. Diese frühkindliche Konditionierung sitzt offenbar so tief, dass ich neulich, im gehobenen Alter, in einer sehr heiklen Bremssituation intuitiv wieder den Rücktritt suchte. Dabei radele ich schon seit Jahrzehnten so gut wie rücktrittfrei.
Trotzdem stieg ich in diesem sehr unfallträchtigen Moment, als mir ein Autofahrer plötzlich die Vorfahrt nahm, instinktiv in die nicht vorhandenen Eisen und rollte, so wie ehedem am Bahnübergang, zu meinem großen Schreck einfach weiter. Zum Glück schaffte es der Autler gerade noch so einzulenken. „Verdammter Arschficker!“, rief ich ihm wutschnaubend zu, was er jedoch, weil längst auf und davon, gar nicht mehr hörte.
Ich aber schämte mich sofort und zutiefst: Dieses hässliche Arschwort schon wieder! Wann immer ich im Straßenverkehr belästigt, bedrängt oder bedroht werde – und das passiert mir als Radler wahrlich nicht selten –, rutscht mir, als wär’s so ein tourettehafter Tic, ausschließlich diese widerlichste aller Widerlichkeiten heraus. Und so oft ich mich anschließend ermahnt und mir vorgenommen hatte, statt dieses ekligen wordings künftig ein weniger ekelhaftes zu wählen, bricht schon beim nächsten Anlass exakt erneut dieser Unflat aus mir heraus. So sehr ich das auch nicht will.
Ich werde mir von nun an die üble Sprachkotze meiner Jugend abtrainieren und übe bereits täglich: „Du Flitzpiepe!“ oder „Du Tourist!“ schallt es den ganzen Tag von meinem Fahrrad. Jetzt muss ich mir nur noch den Rücktritt abgewöhnen.
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